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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Handwerkskammern
Hugo Böttger Von

le neuere Entwicklung des gewerblichen Lebens hat auch für den
Hciudwerkerstand eine Anzahl sogenannter Fragen gebracht, ja
manche Politiker und Volkswirte wollen in dem ganzen heutigen
Handwerk nur eine einzige große soziale Frage, einen Übcrgciugs-
zustand von einer veralteten Unteruehmungsform zu der lebens¬
fähiger!, Entwicklungsstufe des Großbetriebs sehen. Eine Zeit lang, als nämlich
auf allen erhöhten Punkten unsrer Volkswirtschaft die Flagge des internatio¬
nalen Manchestertums aufgezogen war, herrschte diese Anschauung unbedingt;
war sie doch für alle, außer den Handwerkern, ungemein bequem, sie drängte
zu keiner Thätigkeit, da ja doch, um mit Bismnrck zu reden, nach neun Uhr
alles vorbei, über kurz oder laug das Handwerk von schweren Leiden erlöst
und in die herrlichen Gefilde der "Industrie" hinübergeleitet sein würde. Aber
da kam plötzlich Leben in die angeblich dem Tode nahe Volksmasse: es ent¬
stand eine Handwerkerbewegnng, die über die nötige Lnugenkraft verfügte, sich
in dem Stimmengewirr der Tagespolitiken in dem Lärm des allgemeinen
Jntercssenkampfes geltend zu machen. Sie forderte und weckte das öffentliche
Interesse; das laiWsr Ällor wurde auch auf diesem Felde in die Flucht ge¬
schlagen, und die "Fragen" des Handwerks sind ganz allmählich in die Pro¬
gramme den sämtlichen politischen Parteien im deutschen Reiche eingedrungen;
nur die Sozialdemokratie, die sich vermißt, als die einzige Partei der Bedrängten
und Bedrückten aufzutreten, steht diesen Fragen mit verschränkten Armen gegen¬
über. Sie wartet und vertröstet auf die große Zeit des allgemeinen Krachs;
da sollen auch die Forderungen des gewerblichen Mittelstandes erfüllt werden.

Wir andern hoffen, daß das schon eher möglich sein werde, damit uns
dieser kräftigste Teil des Volkes erhalten bleibe, natürlich soweit er erhaltens-
wert ist.

Gewiß, das Handwerk ist seit geraumer Zeit in einer schwierigen Lage.
Mit dem Beginn des Fabrikbetriebs und der Geld- und Kreditwirtschaft ist
die Klasse der Handwerker aus ihrer frühern behäbigen und sichern Lebens¬
haltung in den "Krieg aller" hinausgedrängt wordeu. Durch das Aufkommen
der Fabriken vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert wurde das




Die Handwerkskammern
Hugo Böttger Von

le neuere Entwicklung des gewerblichen Lebens hat auch für den
Hciudwerkerstand eine Anzahl sogenannter Fragen gebracht, ja
manche Politiker und Volkswirte wollen in dem ganzen heutigen
Handwerk nur eine einzige große soziale Frage, einen Übcrgciugs-
zustand von einer veralteten Unteruehmungsform zu der lebens¬
fähiger!, Entwicklungsstufe des Großbetriebs sehen. Eine Zeit lang, als nämlich
auf allen erhöhten Punkten unsrer Volkswirtschaft die Flagge des internatio¬
nalen Manchestertums aufgezogen war, herrschte diese Anschauung unbedingt;
war sie doch für alle, außer den Handwerkern, ungemein bequem, sie drängte
zu keiner Thätigkeit, da ja doch, um mit Bismnrck zu reden, nach neun Uhr
alles vorbei, über kurz oder laug das Handwerk von schweren Leiden erlöst
und in die herrlichen Gefilde der „Industrie" hinübergeleitet sein würde. Aber
da kam plötzlich Leben in die angeblich dem Tode nahe Volksmasse: es ent¬
stand eine Handwerkerbewegnng, die über die nötige Lnugenkraft verfügte, sich
in dem Stimmengewirr der Tagespolitiken in dem Lärm des allgemeinen
Jntercssenkampfes geltend zu machen. Sie forderte und weckte das öffentliche
Interesse; das laiWsr Ällor wurde auch auf diesem Felde in die Flucht ge¬
schlagen, und die „Fragen" des Handwerks sind ganz allmählich in die Pro¬
gramme den sämtlichen politischen Parteien im deutschen Reiche eingedrungen;
nur die Sozialdemokratie, die sich vermißt, als die einzige Partei der Bedrängten
und Bedrückten aufzutreten, steht diesen Fragen mit verschränkten Armen gegen¬
über. Sie wartet und vertröstet auf die große Zeit des allgemeinen Krachs;
da sollen auch die Forderungen des gewerblichen Mittelstandes erfüllt werden.

Wir andern hoffen, daß das schon eher möglich sein werde, damit uns
dieser kräftigste Teil des Volkes erhalten bleibe, natürlich soweit er erhaltens-
wert ist.

Gewiß, das Handwerk ist seit geraumer Zeit in einer schwierigen Lage.
Mit dem Beginn des Fabrikbetriebs und der Geld- und Kreditwirtschaft ist
die Klasse der Handwerker aus ihrer frühern behäbigen und sichern Lebens¬
haltung in den „Krieg aller" hinausgedrängt wordeu. Durch das Aufkommen
der Fabriken vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert wurde das


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[0213] [Abbildung] Die Handwerkskammern Hugo Böttger Von le neuere Entwicklung des gewerblichen Lebens hat auch für den Hciudwerkerstand eine Anzahl sogenannter Fragen gebracht, ja manche Politiker und Volkswirte wollen in dem ganzen heutigen Handwerk nur eine einzige große soziale Frage, einen Übcrgciugs- zustand von einer veralteten Unteruehmungsform zu der lebens¬ fähiger!, Entwicklungsstufe des Großbetriebs sehen. Eine Zeit lang, als nämlich auf allen erhöhten Punkten unsrer Volkswirtschaft die Flagge des internatio¬ nalen Manchestertums aufgezogen war, herrschte diese Anschauung unbedingt; war sie doch für alle, außer den Handwerkern, ungemein bequem, sie drängte zu keiner Thätigkeit, da ja doch, um mit Bismnrck zu reden, nach neun Uhr alles vorbei, über kurz oder laug das Handwerk von schweren Leiden erlöst und in die herrlichen Gefilde der „Industrie" hinübergeleitet sein würde. Aber da kam plötzlich Leben in die angeblich dem Tode nahe Volksmasse: es ent¬ stand eine Handwerkerbewegnng, die über die nötige Lnugenkraft verfügte, sich in dem Stimmengewirr der Tagespolitiken in dem Lärm des allgemeinen Jntercssenkampfes geltend zu machen. Sie forderte und weckte das öffentliche Interesse; das laiWsr Ällor wurde auch auf diesem Felde in die Flucht ge¬ schlagen, und die „Fragen" des Handwerks sind ganz allmählich in die Pro¬ gramme den sämtlichen politischen Parteien im deutschen Reiche eingedrungen; nur die Sozialdemokratie, die sich vermißt, als die einzige Partei der Bedrängten und Bedrückten aufzutreten, steht diesen Fragen mit verschränkten Armen gegen¬ über. Sie wartet und vertröstet auf die große Zeit des allgemeinen Krachs; da sollen auch die Forderungen des gewerblichen Mittelstandes erfüllt werden. Wir andern hoffen, daß das schon eher möglich sein werde, damit uns dieser kräftigste Teil des Volkes erhalten bleibe, natürlich soweit er erhaltens- wert ist. Gewiß, das Handwerk ist seit geraumer Zeit in einer schwierigen Lage. Mit dem Beginn des Fabrikbetriebs und der Geld- und Kreditwirtschaft ist die Klasse der Handwerker aus ihrer frühern behäbigen und sichern Lebens¬ haltung in den „Krieg aller" hinausgedrängt wordeu. Durch das Aufkommen der Fabriken vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert wurde das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/213>, abgerufen am 28.04.2024.