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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

in wunderliches Gewirr von Meinungen wogt in Zeitungen,
Zeitschriften, Broschüren und Büchern durch einander, wenn die
Stellung des Christentums zu den politischen und wirtschaft¬
lichen Fragen unsrer Zeit erörtert wird. Die Negierung will
die Religion durch Gesetze schützen, ein Gedanke gleich dem, einen
mathematischen Lehrsatz oder ein philosophisches System durch die Polizei zu
stützen. Politische Parteien verbünden sich aufs engste mit dieser oder jener
Kirche, wobei es nur fraglich bleibt, ob die Partei die Kirche oder die Kirche
die Partei tragen und fördern soll, oder ob beide Wünsche zusammenkommen.
Weite Kreise sehen es als selbstverständlich an, daß das Christentum und die
Kirche die bestehenden Ordnungen stützen und gegen die Sozialdemokratie kämpfen
müßten. Als Professor Kaftan auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß
sagte, daß mit dem Christentum jede wirtschaftliche Ordnung verträglich sei,
nahm der Hannöversche Courier das zum Anlaß, dem Kongreß Unisturzbestre¬
bungen nachzusagen. Und solche Gedanken finden innerhalb der Kirche ihren
Wiederhall. Die preußische Gcneralshnode 1891 spricht davon, "daß die tief¬
gehenden Bewegungen der Gegenwart auf dem sozialen Gebiete den Bestand
der Kirche ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft bedrohten"; sie bittet darum
das evangelische Volk, "dem Umsturz von Altar und Thron in GlcmbenSmacht
entgegenzutreten." Die kirchliche Körperschaft hat hier doch wenigstens die
herkömmliche Phrase "Thron und Altar" umgekehrt. Das braunschweigische
Konsistorium redet in einem Erlaß um Pastor Schall von dem Widerspruch
der Fuudamentalsätze der sozialdemokratischen Lehren mit der christlichen Ethik,
der in seiner vollen Schärfe gewürdigt werden müsse. Die allgemeine luthe¬
rische Konferenz 1890 forderte, daß die Kirche zu dem Kommunismus, Ne-


Grenzboten 1 1895 ZI


Das Christentum und die soziale Frage

in wunderliches Gewirr von Meinungen wogt in Zeitungen,
Zeitschriften, Broschüren und Büchern durch einander, wenn die
Stellung des Christentums zu den politischen und wirtschaft¬
lichen Fragen unsrer Zeit erörtert wird. Die Negierung will
die Religion durch Gesetze schützen, ein Gedanke gleich dem, einen
mathematischen Lehrsatz oder ein philosophisches System durch die Polizei zu
stützen. Politische Parteien verbünden sich aufs engste mit dieser oder jener
Kirche, wobei es nur fraglich bleibt, ob die Partei die Kirche oder die Kirche
die Partei tragen und fördern soll, oder ob beide Wünsche zusammenkommen.
Weite Kreise sehen es als selbstverständlich an, daß das Christentum und die
Kirche die bestehenden Ordnungen stützen und gegen die Sozialdemokratie kämpfen
müßten. Als Professor Kaftan auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß
sagte, daß mit dem Christentum jede wirtschaftliche Ordnung verträglich sei,
nahm der Hannöversche Courier das zum Anlaß, dem Kongreß Unisturzbestre¬
bungen nachzusagen. Und solche Gedanken finden innerhalb der Kirche ihren
Wiederhall. Die preußische Gcneralshnode 1891 spricht davon, „daß die tief¬
gehenden Bewegungen der Gegenwart auf dem sozialen Gebiete den Bestand
der Kirche ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft bedrohten"; sie bittet darum
das evangelische Volk, „dem Umsturz von Altar und Thron in GlcmbenSmacht
entgegenzutreten." Die kirchliche Körperschaft hat hier doch wenigstens die
herkömmliche Phrase „Thron und Altar" umgekehrt. Das braunschweigische
Konsistorium redet in einem Erlaß um Pastor Schall von dem Widerspruch
der Fuudamentalsätze der sozialdemokratischen Lehren mit der christlichen Ethik,
der in seiner vollen Schärfe gewürdigt werden müsse. Die allgemeine luthe¬
rische Konferenz 1890 forderte, daß die Kirche zu dem Kommunismus, Ne-


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[0249] [Abbildung] Das Christentum und die soziale Frage in wunderliches Gewirr von Meinungen wogt in Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren und Büchern durch einander, wenn die Stellung des Christentums zu den politischen und wirtschaft¬ lichen Fragen unsrer Zeit erörtert wird. Die Negierung will die Religion durch Gesetze schützen, ein Gedanke gleich dem, einen mathematischen Lehrsatz oder ein philosophisches System durch die Polizei zu stützen. Politische Parteien verbünden sich aufs engste mit dieser oder jener Kirche, wobei es nur fraglich bleibt, ob die Partei die Kirche oder die Kirche die Partei tragen und fördern soll, oder ob beide Wünsche zusammenkommen. Weite Kreise sehen es als selbstverständlich an, daß das Christentum und die Kirche die bestehenden Ordnungen stützen und gegen die Sozialdemokratie kämpfen müßten. Als Professor Kaftan auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß sagte, daß mit dem Christentum jede wirtschaftliche Ordnung verträglich sei, nahm der Hannöversche Courier das zum Anlaß, dem Kongreß Unisturzbestre¬ bungen nachzusagen. Und solche Gedanken finden innerhalb der Kirche ihren Wiederhall. Die preußische Gcneralshnode 1891 spricht davon, „daß die tief¬ gehenden Bewegungen der Gegenwart auf dem sozialen Gebiete den Bestand der Kirche ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft bedrohten"; sie bittet darum das evangelische Volk, „dem Umsturz von Altar und Thron in GlcmbenSmacht entgegenzutreten." Die kirchliche Körperschaft hat hier doch wenigstens die herkömmliche Phrase „Thron und Altar" umgekehrt. Das braunschweigische Konsistorium redet in einem Erlaß um Pastor Schall von dem Widerspruch der Fuudamentalsätze der sozialdemokratischen Lehren mit der christlichen Ethik, der in seiner vollen Schärfe gewürdigt werden müsse. Die allgemeine luthe¬ rische Konferenz 1890 forderte, daß die Kirche zu dem Kommunismus, Ne- Grenzboten 1 1895 ZI

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/249>, abgerufen am 28.04.2024.