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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Christentum und die soziale Frage

pnblilanismus und Atheismus der Sozialdemokratie verneinend, abwehrend und
bekämpfend Stellung nehme.

Auch andre Stimmen werden laut, die der Kirche eine thätige Rolle im
Kampfe zuschreiben. Schon 1864 begann der Bischof von Ketteler seine Er¬
örterungen über diesen Punkt zwar mit dem allgemeinen Gedanken, "daß das
Christentum und die Kirche nicht unmittelbar und durch äußere, mehr oder
weniger mechanische Mittel auf die sozialen Verhältnisse einwirke"; aber er
beschränkte diesen Ausspruch sofort, indem er hinzufügte, diese Einwirkung ge¬
schehe "zunächst und vorzüglich durch deu Geist, den das Christentum dem
Menschen einflößt." Darnach also und in zweiter Linie kommen doch andre
Mittel, die die katholische Kirche reichlich und erfolgreich angewandt hat.
Christentum und Kirche beanspruchen dort sehr wohl jenen unmittelbaren Ein¬
fluß und wissen ihn auszuüben. Der richtige Gedanke Kettelers ohne die
spätere Einschränkung scheint in der protestantischen Kirche wenigstens theore¬
tisch allgemein anerkannt zu werden; auf jedem Evangelisch-sozialen Kongreß
betont man, daß das Christentum keine volkswirtschaftlichen Lehren enthalte und
nicht unmittelbar auf die sozialen Verhältnisse einwirke. Trotzdem sagte Stöcker
auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß, dem Christentum gebühre eine
unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben. Das Buch des Pastor
Schall über die Sozialdemokratin' und die Stellung der Kirche zu ihr zeugt
trotz richtiger Einzelheiten von der herrschenden Verwirrung. Er kann nicht
genug betonen, daß die .Kirche der sozialen Frage gegenüber mehr thun müsse
als Gottes Wort predigen und die Sakramente verwalten, aber in seinen posi¬
tiven Forderungen, die der langen Kritik folgen, stimmt er mit denen überein,
die sich auf jene beiden Stücke beschränken wollen. Auch die Aufsätze Nau-
manns, die kürzlich gesammelt erschienen sind, leiden an demselben Mangel.
Professor Nathusius beklagt in dem ersten Bande seiner Schrift über die Mit¬
arbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, daß es vielfach an einer
genauen Fragestellung fehle. Er stellt dann selbst drei Fragen als entscheidend
hin; wollten sich aber darnach die Einzelnen gruppiren, so könnte Nathusius
mit Erstaunen Gegner, die er bekämpft, auf seiner Seite sehen. Naumann
giebt auch die Verwirrung für seine Richtung zu: "Das Christlich-soziale ist
eben in dem Stadium der Fragestellung."

Ein Abweichen nach rechts oder links ist bei solchem Tasten und Suchen
kaum zu vermeiden. Darin liegt aber für das Christentum eine große Gefahr.
Mag es das einemal zu einer Stütze des Staates, zu einem Hilfsmittel poli¬
tischer und sozialer Parteien werden, oder mag es das andremal selbst in
sozialer Thätigkeit seine Stärke suchen, beides ist für das Christentum als
Religion gleich gefährlich.

Das erste ist ebenso thöricht wie verderblich. Eine lebendige Religion
kann niemals als Mittel zu andern Zwecken gebraucht werden, sie ist selbst


Das Christentum und die soziale Frage

pnblilanismus und Atheismus der Sozialdemokratie verneinend, abwehrend und
bekämpfend Stellung nehme.

Auch andre Stimmen werden laut, die der Kirche eine thätige Rolle im
Kampfe zuschreiben. Schon 1864 begann der Bischof von Ketteler seine Er¬
örterungen über diesen Punkt zwar mit dem allgemeinen Gedanken, „daß das
Christentum und die Kirche nicht unmittelbar und durch äußere, mehr oder
weniger mechanische Mittel auf die sozialen Verhältnisse einwirke"; aber er
beschränkte diesen Ausspruch sofort, indem er hinzufügte, diese Einwirkung ge¬
schehe „zunächst und vorzüglich durch deu Geist, den das Christentum dem
Menschen einflößt." Darnach also und in zweiter Linie kommen doch andre
Mittel, die die katholische Kirche reichlich und erfolgreich angewandt hat.
Christentum und Kirche beanspruchen dort sehr wohl jenen unmittelbaren Ein¬
fluß und wissen ihn auszuüben. Der richtige Gedanke Kettelers ohne die
spätere Einschränkung scheint in der protestantischen Kirche wenigstens theore¬
tisch allgemein anerkannt zu werden; auf jedem Evangelisch-sozialen Kongreß
betont man, daß das Christentum keine volkswirtschaftlichen Lehren enthalte und
nicht unmittelbar auf die sozialen Verhältnisse einwirke. Trotzdem sagte Stöcker
auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß, dem Christentum gebühre eine
unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben. Das Buch des Pastor
Schall über die Sozialdemokratin' und die Stellung der Kirche zu ihr zeugt
trotz richtiger Einzelheiten von der herrschenden Verwirrung. Er kann nicht
genug betonen, daß die .Kirche der sozialen Frage gegenüber mehr thun müsse
als Gottes Wort predigen und die Sakramente verwalten, aber in seinen posi¬
tiven Forderungen, die der langen Kritik folgen, stimmt er mit denen überein,
die sich auf jene beiden Stücke beschränken wollen. Auch die Aufsätze Nau-
manns, die kürzlich gesammelt erschienen sind, leiden an demselben Mangel.
Professor Nathusius beklagt in dem ersten Bande seiner Schrift über die Mit¬
arbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, daß es vielfach an einer
genauen Fragestellung fehle. Er stellt dann selbst drei Fragen als entscheidend
hin; wollten sich aber darnach die Einzelnen gruppiren, so könnte Nathusius
mit Erstaunen Gegner, die er bekämpft, auf seiner Seite sehen. Naumann
giebt auch die Verwirrung für seine Richtung zu: „Das Christlich-soziale ist
eben in dem Stadium der Fragestellung."

Ein Abweichen nach rechts oder links ist bei solchem Tasten und Suchen
kaum zu vermeiden. Darin liegt aber für das Christentum eine große Gefahr.
Mag es das einemal zu einer Stütze des Staates, zu einem Hilfsmittel poli¬
tischer und sozialer Parteien werden, oder mag es das andremal selbst in
sozialer Thätigkeit seine Stärke suchen, beides ist für das Christentum als
Religion gleich gefährlich.

Das erste ist ebenso thöricht wie verderblich. Eine lebendige Religion
kann niemals als Mittel zu andern Zwecken gebraucht werden, sie ist selbst


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[0250] Das Christentum und die soziale Frage pnblilanismus und Atheismus der Sozialdemokratie verneinend, abwehrend und bekämpfend Stellung nehme. Auch andre Stimmen werden laut, die der Kirche eine thätige Rolle im Kampfe zuschreiben. Schon 1864 begann der Bischof von Ketteler seine Er¬ örterungen über diesen Punkt zwar mit dem allgemeinen Gedanken, „daß das Christentum und die Kirche nicht unmittelbar und durch äußere, mehr oder weniger mechanische Mittel auf die sozialen Verhältnisse einwirke"; aber er beschränkte diesen Ausspruch sofort, indem er hinzufügte, diese Einwirkung ge¬ schehe „zunächst und vorzüglich durch deu Geist, den das Christentum dem Menschen einflößt." Darnach also und in zweiter Linie kommen doch andre Mittel, die die katholische Kirche reichlich und erfolgreich angewandt hat. Christentum und Kirche beanspruchen dort sehr wohl jenen unmittelbaren Ein¬ fluß und wissen ihn auszuüben. Der richtige Gedanke Kettelers ohne die spätere Einschränkung scheint in der protestantischen Kirche wenigstens theore¬ tisch allgemein anerkannt zu werden; auf jedem Evangelisch-sozialen Kongreß betont man, daß das Christentum keine volkswirtschaftlichen Lehren enthalte und nicht unmittelbar auf die sozialen Verhältnisse einwirke. Trotzdem sagte Stöcker auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß, dem Christentum gebühre eine unmittelbare Gewalt über das wirtschaftliche Leben. Das Buch des Pastor Schall über die Sozialdemokratin' und die Stellung der Kirche zu ihr zeugt trotz richtiger Einzelheiten von der herrschenden Verwirrung. Er kann nicht genug betonen, daß die .Kirche der sozialen Frage gegenüber mehr thun müsse als Gottes Wort predigen und die Sakramente verwalten, aber in seinen posi¬ tiven Forderungen, die der langen Kritik folgen, stimmt er mit denen überein, die sich auf jene beiden Stücke beschränken wollen. Auch die Aufsätze Nau- manns, die kürzlich gesammelt erschienen sind, leiden an demselben Mangel. Professor Nathusius beklagt in dem ersten Bande seiner Schrift über die Mit¬ arbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, daß es vielfach an einer genauen Fragestellung fehle. Er stellt dann selbst drei Fragen als entscheidend hin; wollten sich aber darnach die Einzelnen gruppiren, so könnte Nathusius mit Erstaunen Gegner, die er bekämpft, auf seiner Seite sehen. Naumann giebt auch die Verwirrung für seine Richtung zu: „Das Christlich-soziale ist eben in dem Stadium der Fragestellung." Ein Abweichen nach rechts oder links ist bei solchem Tasten und Suchen kaum zu vermeiden. Darin liegt aber für das Christentum eine große Gefahr. Mag es das einemal zu einer Stütze des Staates, zu einem Hilfsmittel poli¬ tischer und sozialer Parteien werden, oder mag es das andremal selbst in sozialer Thätigkeit seine Stärke suchen, beides ist für das Christentum als Religion gleich gefährlich. Das erste ist ebenso thöricht wie verderblich. Eine lebendige Religion kann niemals als Mittel zu andern Zwecken gebraucht werden, sie ist selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/250>, abgerufen am 13.05.2024.