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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Wissenschaft
H. Böing von

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MMin Jahre 1888 sagte Emil Rosenberg in der Antrittsrede, die
er als Professor der Anatomie in Utrecht hielt: "Es ist tief
begründet in dem Wesen der Wissenschaft, daß ihr Leben eignen,
ihm innewohnenden Gesetzen folgt; ihren Gang hemmen nicht
die Schranken von Raum und Zeit, noch auch ist derselbe im
großen und ganzen beeinflußt von den Besonderheiten der Arbeitsfelder, auf
welchen diejenigen, die sich dem Dienste der Wissenschaft widmen, thätig sind.
Gegenüber dieser Selbständigkeit des Lebens der Wissenschaft sind die einzelnen
Arbeiter, welche sie beschäftigt, mit Recht nur dienende Organe der letztern
genannt worden, deren Bedeutung in dem großen Organismus, welchem sie
angehören, auch dadurch gekennzeichnet wird, daß im Hinblick auf ihre Wirk¬
samkeit Ort und Zeit des Wirkens wesentlich Einfluß üben."

Was mag wohl Herr Rosenberg in diesen tiefsinnigen und schön stilisirten
Sätzen unter Wissenschaft, Wesen und Leben der Wissenschaft, Selbständigkeit des
Lebens, Organismus der Wissenschaft verstanden haben? Will er die Wissen¬
schaft personifiziren und ihr als Person ein selbständiges Leben zuspreche"? Ver¬
steht er unter Schranken von Raum und Zeit die philosophischen Begriffe dieser
Wörter, oder will er nur den trivialen Gedanken aussprechen, daß die Wissen¬
schaft nicht an Ort und Jahreszahl gebunden sei? Lege ich beim Nachdenken
über diese Rätselfragen Nachdruck auf die Ausdrücke Organismus, Selbständig¬
keit des Lebens nach eignen ihm innewohnenden Gesetzen, so komme ich zu der
Annahme, daß Herr Rosenberg wirklich die Wissenschaft für einen allerdings
etwas mystischen "großen Organismus" hält, der zu den Vertretern der
Wissenschaft oder, wie Herr Rosenberg sie nennt, zu ihren "dienenden Organen"
etwa in demselben Verhältnis steht, wie der Mensch zu seinen Organen, daß
also, wie der Mensch seine Sinneswerkzeuge, seine Verdauungsorgane, seine
Bewcguugsappcirate u. s. w. benutzt, um sie nach den ihm innewohnenden Ge¬
setzen für die Aufrechterhaltung seiner Lebensprozesse und für seine Fortent¬
wicklung zu verwerten, so auch die Wissenschaft die ihr von ihren Dienern
gelieferten Materialien aufwende, um sie nach eignen, ihr innewohnenden Ge¬
setzen zu ihrem Ausbau zu benutzen. Zerlege ich aber diesen Vergleich, so




Die Wissenschaft
H. Böing von

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MMin Jahre 1888 sagte Emil Rosenberg in der Antrittsrede, die
er als Professor der Anatomie in Utrecht hielt: „Es ist tief
begründet in dem Wesen der Wissenschaft, daß ihr Leben eignen,
ihm innewohnenden Gesetzen folgt; ihren Gang hemmen nicht
die Schranken von Raum und Zeit, noch auch ist derselbe im
großen und ganzen beeinflußt von den Besonderheiten der Arbeitsfelder, auf
welchen diejenigen, die sich dem Dienste der Wissenschaft widmen, thätig sind.
Gegenüber dieser Selbständigkeit des Lebens der Wissenschaft sind die einzelnen
Arbeiter, welche sie beschäftigt, mit Recht nur dienende Organe der letztern
genannt worden, deren Bedeutung in dem großen Organismus, welchem sie
angehören, auch dadurch gekennzeichnet wird, daß im Hinblick auf ihre Wirk¬
samkeit Ort und Zeit des Wirkens wesentlich Einfluß üben."

Was mag wohl Herr Rosenberg in diesen tiefsinnigen und schön stilisirten
Sätzen unter Wissenschaft, Wesen und Leben der Wissenschaft, Selbständigkeit des
Lebens, Organismus der Wissenschaft verstanden haben? Will er die Wissen¬
schaft personifiziren und ihr als Person ein selbständiges Leben zuspreche»? Ver¬
steht er unter Schranken von Raum und Zeit die philosophischen Begriffe dieser
Wörter, oder will er nur den trivialen Gedanken aussprechen, daß die Wissen¬
schaft nicht an Ort und Jahreszahl gebunden sei? Lege ich beim Nachdenken
über diese Rätselfragen Nachdruck auf die Ausdrücke Organismus, Selbständig¬
keit des Lebens nach eignen ihm innewohnenden Gesetzen, so komme ich zu der
Annahme, daß Herr Rosenberg wirklich die Wissenschaft für einen allerdings
etwas mystischen „großen Organismus" hält, der zu den Vertretern der
Wissenschaft oder, wie Herr Rosenberg sie nennt, zu ihren „dienenden Organen"
etwa in demselben Verhältnis steht, wie der Mensch zu seinen Organen, daß
also, wie der Mensch seine Sinneswerkzeuge, seine Verdauungsorgane, seine
Bewcguugsappcirate u. s. w. benutzt, um sie nach den ihm innewohnenden Ge¬
setzen für die Aufrechterhaltung seiner Lebensprozesse und für seine Fortent¬
wicklung zu verwerten, so auch die Wissenschaft die ihr von ihren Dienern
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[0417] [Abbildung] Die Wissenschaft H. Böing von ^«ZM-^^ A»r° «r><TM?S5> MMin Jahre 1888 sagte Emil Rosenberg in der Antrittsrede, die er als Professor der Anatomie in Utrecht hielt: „Es ist tief begründet in dem Wesen der Wissenschaft, daß ihr Leben eignen, ihm innewohnenden Gesetzen folgt; ihren Gang hemmen nicht die Schranken von Raum und Zeit, noch auch ist derselbe im großen und ganzen beeinflußt von den Besonderheiten der Arbeitsfelder, auf welchen diejenigen, die sich dem Dienste der Wissenschaft widmen, thätig sind. Gegenüber dieser Selbständigkeit des Lebens der Wissenschaft sind die einzelnen Arbeiter, welche sie beschäftigt, mit Recht nur dienende Organe der letztern genannt worden, deren Bedeutung in dem großen Organismus, welchem sie angehören, auch dadurch gekennzeichnet wird, daß im Hinblick auf ihre Wirk¬ samkeit Ort und Zeit des Wirkens wesentlich Einfluß üben." Was mag wohl Herr Rosenberg in diesen tiefsinnigen und schön stilisirten Sätzen unter Wissenschaft, Wesen und Leben der Wissenschaft, Selbständigkeit des Lebens, Organismus der Wissenschaft verstanden haben? Will er die Wissen¬ schaft personifiziren und ihr als Person ein selbständiges Leben zuspreche»? Ver¬ steht er unter Schranken von Raum und Zeit die philosophischen Begriffe dieser Wörter, oder will er nur den trivialen Gedanken aussprechen, daß die Wissen¬ schaft nicht an Ort und Jahreszahl gebunden sei? Lege ich beim Nachdenken über diese Rätselfragen Nachdruck auf die Ausdrücke Organismus, Selbständig¬ keit des Lebens nach eignen ihm innewohnenden Gesetzen, so komme ich zu der Annahme, daß Herr Rosenberg wirklich die Wissenschaft für einen allerdings etwas mystischen „großen Organismus" hält, der zu den Vertretern der Wissenschaft oder, wie Herr Rosenberg sie nennt, zu ihren „dienenden Organen" etwa in demselben Verhältnis steht, wie der Mensch zu seinen Organen, daß also, wie der Mensch seine Sinneswerkzeuge, seine Verdauungsorgane, seine Bewcguugsappcirate u. s. w. benutzt, um sie nach den ihm innewohnenden Ge¬ setzen für die Aufrechterhaltung seiner Lebensprozesse und für seine Fortent¬ wicklung zu verwerten, so auch die Wissenschaft die ihr von ihren Dienern gelieferten Materialien aufwende, um sie nach eignen, ihr innewohnenden Ge¬ setzen zu ihrem Ausbau zu benutzen. Zerlege ich aber diesen Vergleich, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/417>, abgerufen am 27.04.2024.