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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Noch ein Wort über Irrsmnserklärung

auch, wenn die Schwurgerichte (deren Spruch ein die Stelle der mittelalter¬
lichen Gottesurteile getreten ist) durch sogenannte große Schöffengerichte ersetzt
würden, darin eine Verbesserung sehen. Ob sich aber gerade die oft so schwierige
Frage über den Geisteszustand eines Menschen vorzugsweise dazu eigne, von
Laien entschieden zu werden, ist doch wohl zweifelhaft.

Es kommt zunächst darauf um, wie man sich diese Laien denkt. Soll etwa
eine besondre Klasse von Personen ausfindig gemacht werden, die sich vor¬
zugsweise auf Geisteskrankheit verstehen? Solche Personen würden schwer
zu finden sein. Wer sollte sie auswählen und bestimmen? Muß man aber
auf den allgemeinen gefunden Menschenverstand zurückgreifen, so wird man
kaum umhin können, die Personen zu wählen, die jetzt schon vielfach als
Schöffen oder Geschworne zu Richtern bestellt werden. Nun möchte ich einmal
die, die für eine solche Einrichtung schwärmen, bitten, in unsre Schöffen- und
Geschwornengerichte hineinzugehen und sich die Männer, die dort zu Gericht
sitzen, etwas näher anzusehen. Es sind gewiß sehr ehrenwerte Bürger. Glaubt
man denn aber, daß, wenn sich diese Männer in zweifelhaften Fällen auf
Grund einer vor ihnen aufgeführten gerichtlichen Verhandlung über den Geistes¬
zustand eines Menschen ciussprächcu, damit jederzeit der Weisheit letzter Schluß
gegeben sein würde? Die Entscheidung würde geradeso dem Spiele des Zufalls
anheimgestellt bleiben, wie sie es in gewissem Maße -- leider -- auch jetzt
schon ist und stets bleiben wird. Wenn um aber mit dieser Einrichtung zu¬
gleich die Anrufung jeder höhern Instanz abgeschnitten sein soll, so halte
ich die Einrichtung nicht für eine Verbesserung, sondern für ein Verschlechterung.
Denn meiner Ansicht nach gewährt die wiederholte Prüfung der Frage durch
eine höhere Instanz für die Findung des Rechts eine weit größere Sicherheit
als die Heranziehung einiger Laien zu der Entscheidung erster Instanz, wenn
mit dieser die Sache völlig abgethan sein soll.

Wie man aber auch hierüber denken mag, so ist doch die Frage wirklich
nicht von der Art, daß man dafür mit solchem Eifer eintreten sollte, wie
dies von den Reformfreunden geschieht. Wenn man so thut, als ob der be¬
stehende Zustand ganz unerträglich wäre, von der Zuziehung einiger Laien
zu der Entscheidung aber alles Heil zu erwarten wäre, so ist das völlig haltlos.

Seltsam mutet es übrigens an, wenn die Leitsätze in ihren Schlußimmmern
noch besonders für das Studium der Psychiatrie eintreten. Man sollte doch
denken, daß Männer, die den Satz an die Spitze stellen, daß die Entmün-
digungsfrage nicht nach medizinischen Krankheitsbegriffen zu beurteilen sei, und
die zu deren Beurteilung Laien sür besonders geeignet halten, dahin kommen
müßten, die Psychiatrie für eine ganz nutzlose Wissenschaft zu erklären! Doch
das ist eine Sache für sich.




Noch ein Wort über Irrsmnserklärung

auch, wenn die Schwurgerichte (deren Spruch ein die Stelle der mittelalter¬
lichen Gottesurteile getreten ist) durch sogenannte große Schöffengerichte ersetzt
würden, darin eine Verbesserung sehen. Ob sich aber gerade die oft so schwierige
Frage über den Geisteszustand eines Menschen vorzugsweise dazu eigne, von
Laien entschieden zu werden, ist doch wohl zweifelhaft.

Es kommt zunächst darauf um, wie man sich diese Laien denkt. Soll etwa
eine besondre Klasse von Personen ausfindig gemacht werden, die sich vor¬
zugsweise auf Geisteskrankheit verstehen? Solche Personen würden schwer
zu finden sein. Wer sollte sie auswählen und bestimmen? Muß man aber
auf den allgemeinen gefunden Menschenverstand zurückgreifen, so wird man
kaum umhin können, die Personen zu wählen, die jetzt schon vielfach als
Schöffen oder Geschworne zu Richtern bestellt werden. Nun möchte ich einmal
die, die für eine solche Einrichtung schwärmen, bitten, in unsre Schöffen- und
Geschwornengerichte hineinzugehen und sich die Männer, die dort zu Gericht
sitzen, etwas näher anzusehen. Es sind gewiß sehr ehrenwerte Bürger. Glaubt
man denn aber, daß, wenn sich diese Männer in zweifelhaften Fällen auf
Grund einer vor ihnen aufgeführten gerichtlichen Verhandlung über den Geistes¬
zustand eines Menschen ciussprächcu, damit jederzeit der Weisheit letzter Schluß
gegeben sein würde? Die Entscheidung würde geradeso dem Spiele des Zufalls
anheimgestellt bleiben, wie sie es in gewissem Maße — leider — auch jetzt
schon ist und stets bleiben wird. Wenn um aber mit dieser Einrichtung zu¬
gleich die Anrufung jeder höhern Instanz abgeschnitten sein soll, so halte
ich die Einrichtung nicht für eine Verbesserung, sondern für ein Verschlechterung.
Denn meiner Ansicht nach gewährt die wiederholte Prüfung der Frage durch
eine höhere Instanz für die Findung des Rechts eine weit größere Sicherheit
als die Heranziehung einiger Laien zu der Entscheidung erster Instanz, wenn
mit dieser die Sache völlig abgethan sein soll.

Wie man aber auch hierüber denken mag, so ist doch die Frage wirklich
nicht von der Art, daß man dafür mit solchem Eifer eintreten sollte, wie
dies von den Reformfreunden geschieht. Wenn man so thut, als ob der be¬
stehende Zustand ganz unerträglich wäre, von der Zuziehung einiger Laien
zu der Entscheidung aber alles Heil zu erwarten wäre, so ist das völlig haltlos.

Seltsam mutet es übrigens an, wenn die Leitsätze in ihren Schlußimmmern
noch besonders für das Studium der Psychiatrie eintreten. Man sollte doch
denken, daß Männer, die den Satz an die Spitze stellen, daß die Entmün-
digungsfrage nicht nach medizinischen Krankheitsbegriffen zu beurteilen sei, und
die zu deren Beurteilung Laien sür besonders geeignet halten, dahin kommen
müßten, die Psychiatrie für eine ganz nutzlose Wissenschaft zu erklären! Doch
das ist eine Sache für sich.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/416>, abgerufen am 12.05.2024.