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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die Öffentliche Meinung

edermann weiß, daß zu den angesehensten und den unter Um¬
ständen gefürchteten Mächten im modernen Staatsleben die
öffentliche Meinung gehört. Giebt sie doch sogar nicht selten
den Ausschlag bei der Behandlung der Staatsangelegenheiten!
Welcher Staatsmann würde nicht schwere Bedenken tragen, in
wichtigen Fragen gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen!

Aber was ist das eigentlich für eine Macht, der er sich da gegenübergestellt
sieht? Woran erkennt er sie, und warum mißt er ihr eine so hohe Be¬
deutung bei?

Auf den ersten Blick könnte es unüberlegt erscheinen, solche Fragen über¬
haupt zu stellen. Was sollte die öffentliche Meinung andres sein, als die
übereinstimmende Meinung aller Angehörigen eines Volkes, die überhaupt eine
Meinung haben? Und daß ihr, wenn dies ihr Wesen ist, ein bestimmender
Einfluß auf die Entscheidung öffentlicher Fragen gebührt, scheint selbstver¬
ständlich zu sein, wenn man das Volk nicht als eine dem Willen seiner Macht¬
haber unterworfne Herde, sondern als einen lebendigen Körper ansieht, an
dem die Staatsgewalt nur das Haupt ist. Schwieriger erscheint schon die
Frage, woran die öffentliche Meinung im einzelnen Falle zu erkennen sei.
Man wird erwidern, das lasse sich nicht im allgemeinen entscheiden, sondern
es komme hier eben auf den einzelnen Fall an, in dem eine sorgfältige Prüfung
vorzunehmen der Weisheit der Regierenden überlassen bleiben müsse. Gleich¬
wohl wird man nicht leugnen können, daß auch diese nicht im stände sein
werden, die öffentliche Meinung zu erkennen, wenn es ihr an bestimmten
Kennzeichen fehlt. Welche sind das aber? Wenn man die Erfahrung des
täglichen Lebens befragt, so wird man sagen müssen: öffentliche Meinung
pflegt man das zu nennen, was man von einer mehr oder weniger großen


Grenzboten I 1895 69


Die Öffentliche Meinung

edermann weiß, daß zu den angesehensten und den unter Um¬
ständen gefürchteten Mächten im modernen Staatsleben die
öffentliche Meinung gehört. Giebt sie doch sogar nicht selten
den Ausschlag bei der Behandlung der Staatsangelegenheiten!
Welcher Staatsmann würde nicht schwere Bedenken tragen, in
wichtigen Fragen gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen!

Aber was ist das eigentlich für eine Macht, der er sich da gegenübergestellt
sieht? Woran erkennt er sie, und warum mißt er ihr eine so hohe Be¬
deutung bei?

Auf den ersten Blick könnte es unüberlegt erscheinen, solche Fragen über¬
haupt zu stellen. Was sollte die öffentliche Meinung andres sein, als die
übereinstimmende Meinung aller Angehörigen eines Volkes, die überhaupt eine
Meinung haben? Und daß ihr, wenn dies ihr Wesen ist, ein bestimmender
Einfluß auf die Entscheidung öffentlicher Fragen gebührt, scheint selbstver¬
ständlich zu sein, wenn man das Volk nicht als eine dem Willen seiner Macht¬
haber unterworfne Herde, sondern als einen lebendigen Körper ansieht, an
dem die Staatsgewalt nur das Haupt ist. Schwieriger erscheint schon die
Frage, woran die öffentliche Meinung im einzelnen Falle zu erkennen sei.
Man wird erwidern, das lasse sich nicht im allgemeinen entscheiden, sondern
es komme hier eben auf den einzelnen Fall an, in dem eine sorgfältige Prüfung
vorzunehmen der Weisheit der Regierenden überlassen bleiben müsse. Gleich¬
wohl wird man nicht leugnen können, daß auch diese nicht im stände sein
werden, die öffentliche Meinung zu erkennen, wenn es ihr an bestimmten
Kennzeichen fehlt. Welche sind das aber? Wenn man die Erfahrung des
täglichen Lebens befragt, so wird man sagen müssen: öffentliche Meinung
pflegt man das zu nennen, was man von einer mehr oder weniger großen


Grenzboten I 1895 69
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[0559] [Abbildung] Die Öffentliche Meinung edermann weiß, daß zu den angesehensten und den unter Um¬ ständen gefürchteten Mächten im modernen Staatsleben die öffentliche Meinung gehört. Giebt sie doch sogar nicht selten den Ausschlag bei der Behandlung der Staatsangelegenheiten! Welcher Staatsmann würde nicht schwere Bedenken tragen, in wichtigen Fragen gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen! Aber was ist das eigentlich für eine Macht, der er sich da gegenübergestellt sieht? Woran erkennt er sie, und warum mißt er ihr eine so hohe Be¬ deutung bei? Auf den ersten Blick könnte es unüberlegt erscheinen, solche Fragen über¬ haupt zu stellen. Was sollte die öffentliche Meinung andres sein, als die übereinstimmende Meinung aller Angehörigen eines Volkes, die überhaupt eine Meinung haben? Und daß ihr, wenn dies ihr Wesen ist, ein bestimmender Einfluß auf die Entscheidung öffentlicher Fragen gebührt, scheint selbstver¬ ständlich zu sein, wenn man das Volk nicht als eine dem Willen seiner Macht¬ haber unterworfne Herde, sondern als einen lebendigen Körper ansieht, an dem die Staatsgewalt nur das Haupt ist. Schwieriger erscheint schon die Frage, woran die öffentliche Meinung im einzelnen Falle zu erkennen sei. Man wird erwidern, das lasse sich nicht im allgemeinen entscheiden, sondern es komme hier eben auf den einzelnen Fall an, in dem eine sorgfältige Prüfung vorzunehmen der Weisheit der Regierenden überlassen bleiben müsse. Gleich¬ wohl wird man nicht leugnen können, daß auch diese nicht im stände sein werden, die öffentliche Meinung zu erkennen, wenn es ihr an bestimmten Kennzeichen fehlt. Welche sind das aber? Wenn man die Erfahrung des täglichen Lebens befragt, so wird man sagen müssen: öffentliche Meinung pflegt man das zu nennen, was man von einer mehr oder weniger großen Grenzboten I 1895 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/559>, abgerufen am 28.04.2024.