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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

Anzahl von Personen hat aussprechen hören, und was auch in den Zeitungen
gestanden hat. Eine sehr zweifelhafte Größe, diese öffentliche Meinung! Wie¬
viel Personen müssen es denn sein, von denen eine Meinung vorgetragen
werden muß, um als öffentlich gelten zu können? Und muß sie immer die
eigne Meinung dieser Personen, oder kann sie auch lediglich aus der Zeitung,
die sie lesen, entnommen sein? Wohl die eigne Meinung. Aber wer bürgt
dafür, daß sie es auch wirklich ist? Natürlich behauptet jeder gebildete Staats¬
bürger, daß sein Leiborgan nur seinen eigensten Anschauungen Ausdruck gebe;
aber vielfach ist es doch gerade umgekehrt. Es bleiben also nur die Zeitungen,
die sich ja auch, wie bekannt, mit Stolz und Vorliebe als die Organe der
öffentlichen Meinung ausgeben. Eine recht verschiedenartige öffentliche Meinung,
die da zu Tage tritt, eigentlich in jeder Zeitung eine andre! Welches ist nun
die echte? Man sieht, so gar leicht zu erkennen ist die öffentliche Meinung
nicht. Und doch sollte man meinen, daß sie sich in einer wenigstens für ein¬
sichtsvolle Beobachter unverkennbaren Weise äußern müßte, wenn sie über¬
haupt vorhanden wäre. Denn jede geistige Macht hinterläßt Spuren ihres
Wirkens, die dem kundigen Auge nicht verborgen bleiben. Warum sollte es
bei der öffentlichen Meinung anders sein? So lohnt es sich wohl, diese
rätselhafte Größe etwas näher zu betrachten.

Sie soll also die übereinstimmende Meinung aller sein, die überhaupt
eine Meinung haben. Wie viele mögen das wohl sein? Wenn man unter
Meinung ein Ergebnis der erkennenden Thätigkeit versteht, das sich in einem
durch die Anschauung der Dinge gebildeten Urteil über die Dinge darstellt,
dann wird man die Zahl der Menschen, die in politischen Fragen eine selb¬
ständige Meinung haben, äußerst niedrig anschlagen müssen. Die große Masse
des Volkes zunächst, die, soweit ihr ungeschultes Gehirn sie überhaupt zum
Denken befähigt, in den Mühen und Kämpfen ums tägliche Brot keine Zeit
dazu findet, kann hier sicherlich überhaupt nicht in Betracht kommen. Was
aber den kleinen Bruchteil der Gebildeten betrifft, so kann es für den auf¬
merksamen Beobachter gar keinem Zweifel unterliegen, daß, wie gesagt, sehr
viele blindlings das als wahr annehmen, was ihnen ihre Zeitung täglich vor¬
trägt, und selbst wenn sie im stände sind, es zu beurteilen, sich doch gar nicht
die Mühe dazu nehmen. Denn die Beurteilung politischer Fragen erfordert nicht
allein eine ungewöhnliche geistige Befähigung und Bildung, sondern auch An¬
strengung, und wer die Fähigkeit hat, ist nicht gerade immer geneigt, sich
anzustrengen, wenn er es bequemer haben kann, indem er die fertig vor ihm
liegende fremde Meinung unbesehen zur seinigen macht. Kostet es doch schon
Mühe und Zeit genug, die Flut von bedruckten Papier, die den gebildeten
Mann täglich umgiebt, zu durchschwimmen, wie er das nun einmal für seine
Pflicht hält. Wie viele mögen es also sein, die mehr thun, die vielleicht in
weiser Beschränkung der verwirrenden, zerstreuenden und ermüdenden Zeitungs-


Die öffentliche Meinung

Anzahl von Personen hat aussprechen hören, und was auch in den Zeitungen
gestanden hat. Eine sehr zweifelhafte Größe, diese öffentliche Meinung! Wie¬
viel Personen müssen es denn sein, von denen eine Meinung vorgetragen
werden muß, um als öffentlich gelten zu können? Und muß sie immer die
eigne Meinung dieser Personen, oder kann sie auch lediglich aus der Zeitung,
die sie lesen, entnommen sein? Wohl die eigne Meinung. Aber wer bürgt
dafür, daß sie es auch wirklich ist? Natürlich behauptet jeder gebildete Staats¬
bürger, daß sein Leiborgan nur seinen eigensten Anschauungen Ausdruck gebe;
aber vielfach ist es doch gerade umgekehrt. Es bleiben also nur die Zeitungen,
die sich ja auch, wie bekannt, mit Stolz und Vorliebe als die Organe der
öffentlichen Meinung ausgeben. Eine recht verschiedenartige öffentliche Meinung,
die da zu Tage tritt, eigentlich in jeder Zeitung eine andre! Welches ist nun
die echte? Man sieht, so gar leicht zu erkennen ist die öffentliche Meinung
nicht. Und doch sollte man meinen, daß sie sich in einer wenigstens für ein¬
sichtsvolle Beobachter unverkennbaren Weise äußern müßte, wenn sie über¬
haupt vorhanden wäre. Denn jede geistige Macht hinterläßt Spuren ihres
Wirkens, die dem kundigen Auge nicht verborgen bleiben. Warum sollte es
bei der öffentlichen Meinung anders sein? So lohnt es sich wohl, diese
rätselhafte Größe etwas näher zu betrachten.

Sie soll also die übereinstimmende Meinung aller sein, die überhaupt
eine Meinung haben. Wie viele mögen das wohl sein? Wenn man unter
Meinung ein Ergebnis der erkennenden Thätigkeit versteht, das sich in einem
durch die Anschauung der Dinge gebildeten Urteil über die Dinge darstellt,
dann wird man die Zahl der Menschen, die in politischen Fragen eine selb¬
ständige Meinung haben, äußerst niedrig anschlagen müssen. Die große Masse
des Volkes zunächst, die, soweit ihr ungeschultes Gehirn sie überhaupt zum
Denken befähigt, in den Mühen und Kämpfen ums tägliche Brot keine Zeit
dazu findet, kann hier sicherlich überhaupt nicht in Betracht kommen. Was
aber den kleinen Bruchteil der Gebildeten betrifft, so kann es für den auf¬
merksamen Beobachter gar keinem Zweifel unterliegen, daß, wie gesagt, sehr
viele blindlings das als wahr annehmen, was ihnen ihre Zeitung täglich vor¬
trägt, und selbst wenn sie im stände sind, es zu beurteilen, sich doch gar nicht
die Mühe dazu nehmen. Denn die Beurteilung politischer Fragen erfordert nicht
allein eine ungewöhnliche geistige Befähigung und Bildung, sondern auch An¬
strengung, und wer die Fähigkeit hat, ist nicht gerade immer geneigt, sich
anzustrengen, wenn er es bequemer haben kann, indem er die fertig vor ihm
liegende fremde Meinung unbesehen zur seinigen macht. Kostet es doch schon
Mühe und Zeit genug, die Flut von bedruckten Papier, die den gebildeten
Mann täglich umgiebt, zu durchschwimmen, wie er das nun einmal für seine
Pflicht hält. Wie viele mögen es also sein, die mehr thun, die vielleicht in
weiser Beschränkung der verwirrenden, zerstreuenden und ermüdenden Zeitungs-


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[0560] Die öffentliche Meinung Anzahl von Personen hat aussprechen hören, und was auch in den Zeitungen gestanden hat. Eine sehr zweifelhafte Größe, diese öffentliche Meinung! Wie¬ viel Personen müssen es denn sein, von denen eine Meinung vorgetragen werden muß, um als öffentlich gelten zu können? Und muß sie immer die eigne Meinung dieser Personen, oder kann sie auch lediglich aus der Zeitung, die sie lesen, entnommen sein? Wohl die eigne Meinung. Aber wer bürgt dafür, daß sie es auch wirklich ist? Natürlich behauptet jeder gebildete Staats¬ bürger, daß sein Leiborgan nur seinen eigensten Anschauungen Ausdruck gebe; aber vielfach ist es doch gerade umgekehrt. Es bleiben also nur die Zeitungen, die sich ja auch, wie bekannt, mit Stolz und Vorliebe als die Organe der öffentlichen Meinung ausgeben. Eine recht verschiedenartige öffentliche Meinung, die da zu Tage tritt, eigentlich in jeder Zeitung eine andre! Welches ist nun die echte? Man sieht, so gar leicht zu erkennen ist die öffentliche Meinung nicht. Und doch sollte man meinen, daß sie sich in einer wenigstens für ein¬ sichtsvolle Beobachter unverkennbaren Weise äußern müßte, wenn sie über¬ haupt vorhanden wäre. Denn jede geistige Macht hinterläßt Spuren ihres Wirkens, die dem kundigen Auge nicht verborgen bleiben. Warum sollte es bei der öffentlichen Meinung anders sein? So lohnt es sich wohl, diese rätselhafte Größe etwas näher zu betrachten. Sie soll also die übereinstimmende Meinung aller sein, die überhaupt eine Meinung haben. Wie viele mögen das wohl sein? Wenn man unter Meinung ein Ergebnis der erkennenden Thätigkeit versteht, das sich in einem durch die Anschauung der Dinge gebildeten Urteil über die Dinge darstellt, dann wird man die Zahl der Menschen, die in politischen Fragen eine selb¬ ständige Meinung haben, äußerst niedrig anschlagen müssen. Die große Masse des Volkes zunächst, die, soweit ihr ungeschultes Gehirn sie überhaupt zum Denken befähigt, in den Mühen und Kämpfen ums tägliche Brot keine Zeit dazu findet, kann hier sicherlich überhaupt nicht in Betracht kommen. Was aber den kleinen Bruchteil der Gebildeten betrifft, so kann es für den auf¬ merksamen Beobachter gar keinem Zweifel unterliegen, daß, wie gesagt, sehr viele blindlings das als wahr annehmen, was ihnen ihre Zeitung täglich vor¬ trägt, und selbst wenn sie im stände sind, es zu beurteilen, sich doch gar nicht die Mühe dazu nehmen. Denn die Beurteilung politischer Fragen erfordert nicht allein eine ungewöhnliche geistige Befähigung und Bildung, sondern auch An¬ strengung, und wer die Fähigkeit hat, ist nicht gerade immer geneigt, sich anzustrengen, wenn er es bequemer haben kann, indem er die fertig vor ihm liegende fremde Meinung unbesehen zur seinigen macht. Kostet es doch schon Mühe und Zeit genug, die Flut von bedruckten Papier, die den gebildeten Mann täglich umgiebt, zu durchschwimmen, wie er das nun einmal für seine Pflicht hält. Wie viele mögen es also sein, die mehr thun, die vielleicht in weiser Beschränkung der verwirrenden, zerstreuenden und ermüdenden Zeitungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/560>, abgerufen am 12.05.2024.