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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Stumme des Himmels

tuimne des Himmels sind nach Jean Paul Menschen, denen nicht
wie Goethe von einem Gott gegeben ward, zu sagen, was sie
leiden. Da nun Goethe in demselben Maße alle andern an
poetischer Kraft überragte, wie er ihnen an jener Gottesgabe
überlegen war, so sollte man meinen, daß jene sogenannten
Himmelsstummen ihren Namen daher haben müßten, daß sie von der Gabe
der Poesie entweder nichts oder doch nur äußerst wenig abbekommen hätten.
Nach dem neuesten Roman Friedrich Spielhagens aber, der eben diesen Titel
trägt, ist das nicht der Fall. Einer in ihm gegebnen Definition zufolge sind
es Leute, die "eigentlich Poeten sind, denen, eben weil sie stumm sind und
sich von der Qual des ewigen Brütens über eine Welt, die ewig ungeschaffen
bleibt, nicht lösen können," das Leben zu unsäglichem Elend wird.

Nach meinem Dafürhalten hätte Spielhagen, um nicht mit Goethe in
Widerspruch zu geraten, seinem Roman ein andres Aushängeschild geben müssen.
Freilich, "Problematische Naturen" drauf zu schreiben, das würde nicht an¬
gegangen sein, weil er diesen Titel schon für seinen ersten Roman vor mehr
als dreißig Jahren verbraucht hat. Aber worauf es ankommt, das ist, daß
er paßt wie für denselben Wein dieselbe Etikette. Es sind alte, liebe Lieder,
die Spielhagen vortrüge. Niemand kann über seinen eignen Schatten hinweg¬
springen. Wie es derselbe Gustav Freytag ist in den "Fabiern" und den
"Journalisten," in den "Ahnen" und in "Soll und Haben," von derselben
Haut umspannt, aus der er nicht herauskann, trotz all ihrer Ausdehnungs¬
fähigkeit, so wenig kann Spielhagen aus der seineu! Es ist nicht vielen ge¬
geben, ein großer Dichter zu sein, aber etwas mehr Abwechslung könnte man
schon bringen, ohne gleich für einen gehalten zu werden. "Stumme des
Himmels" sind in der That nur eine weitere Auflage der "Problematischen
Naturen," nichts andres.

Die Geschichte beginnt in Norderney. Er, der Baron Nandow aus
Hinterpommern, hat sich dorthin begeben, um sich von einem gewissen, aus
absoluter Leerheit bestehenden Etwas zu kuriren, das seinem Gemüte anhaftet
wie der Kuh das Gebresten, wenn sie Wind gefangen hat. Lange, eigentlich
immer schon, hat er es mit sich herumgeschleppt, nur daß er es anfangs nicht




Stumme des Himmels

tuimne des Himmels sind nach Jean Paul Menschen, denen nicht
wie Goethe von einem Gott gegeben ward, zu sagen, was sie
leiden. Da nun Goethe in demselben Maße alle andern an
poetischer Kraft überragte, wie er ihnen an jener Gottesgabe
überlegen war, so sollte man meinen, daß jene sogenannten
Himmelsstummen ihren Namen daher haben müßten, daß sie von der Gabe
der Poesie entweder nichts oder doch nur äußerst wenig abbekommen hätten.
Nach dem neuesten Roman Friedrich Spielhagens aber, der eben diesen Titel
trägt, ist das nicht der Fall. Einer in ihm gegebnen Definition zufolge sind
es Leute, die „eigentlich Poeten sind, denen, eben weil sie stumm sind und
sich von der Qual des ewigen Brütens über eine Welt, die ewig ungeschaffen
bleibt, nicht lösen können," das Leben zu unsäglichem Elend wird.

Nach meinem Dafürhalten hätte Spielhagen, um nicht mit Goethe in
Widerspruch zu geraten, seinem Roman ein andres Aushängeschild geben müssen.
Freilich, „Problematische Naturen" drauf zu schreiben, das würde nicht an¬
gegangen sein, weil er diesen Titel schon für seinen ersten Roman vor mehr
als dreißig Jahren verbraucht hat. Aber worauf es ankommt, das ist, daß
er paßt wie für denselben Wein dieselbe Etikette. Es sind alte, liebe Lieder,
die Spielhagen vortrüge. Niemand kann über seinen eignen Schatten hinweg¬
springen. Wie es derselbe Gustav Freytag ist in den „Fabiern" und den
„Journalisten," in den „Ahnen" und in „Soll und Haben," von derselben
Haut umspannt, aus der er nicht herauskann, trotz all ihrer Ausdehnungs¬
fähigkeit, so wenig kann Spielhagen aus der seineu! Es ist nicht vielen ge¬
geben, ein großer Dichter zu sein, aber etwas mehr Abwechslung könnte man
schon bringen, ohne gleich für einen gehalten zu werden. „Stumme des
Himmels" sind in der That nur eine weitere Auflage der „Problematischen
Naturen," nichts andres.

Die Geschichte beginnt in Norderney. Er, der Baron Nandow aus
Hinterpommern, hat sich dorthin begeben, um sich von einem gewissen, aus
absoluter Leerheit bestehenden Etwas zu kuriren, das seinem Gemüte anhaftet
wie der Kuh das Gebresten, wenn sie Wind gefangen hat. Lange, eigentlich
immer schon, hat er es mit sich herumgeschleppt, nur daß er es anfangs nicht


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[0649] [Abbildung] Stumme des Himmels tuimne des Himmels sind nach Jean Paul Menschen, denen nicht wie Goethe von einem Gott gegeben ward, zu sagen, was sie leiden. Da nun Goethe in demselben Maße alle andern an poetischer Kraft überragte, wie er ihnen an jener Gottesgabe überlegen war, so sollte man meinen, daß jene sogenannten Himmelsstummen ihren Namen daher haben müßten, daß sie von der Gabe der Poesie entweder nichts oder doch nur äußerst wenig abbekommen hätten. Nach dem neuesten Roman Friedrich Spielhagens aber, der eben diesen Titel trägt, ist das nicht der Fall. Einer in ihm gegebnen Definition zufolge sind es Leute, die „eigentlich Poeten sind, denen, eben weil sie stumm sind und sich von der Qual des ewigen Brütens über eine Welt, die ewig ungeschaffen bleibt, nicht lösen können," das Leben zu unsäglichem Elend wird. Nach meinem Dafürhalten hätte Spielhagen, um nicht mit Goethe in Widerspruch zu geraten, seinem Roman ein andres Aushängeschild geben müssen. Freilich, „Problematische Naturen" drauf zu schreiben, das würde nicht an¬ gegangen sein, weil er diesen Titel schon für seinen ersten Roman vor mehr als dreißig Jahren verbraucht hat. Aber worauf es ankommt, das ist, daß er paßt wie für denselben Wein dieselbe Etikette. Es sind alte, liebe Lieder, die Spielhagen vortrüge. Niemand kann über seinen eignen Schatten hinweg¬ springen. Wie es derselbe Gustav Freytag ist in den „Fabiern" und den „Journalisten," in den „Ahnen" und in „Soll und Haben," von derselben Haut umspannt, aus der er nicht herauskann, trotz all ihrer Ausdehnungs¬ fähigkeit, so wenig kann Spielhagen aus der seineu! Es ist nicht vielen ge¬ geben, ein großer Dichter zu sein, aber etwas mehr Abwechslung könnte man schon bringen, ohne gleich für einen gehalten zu werden. „Stumme des Himmels" sind in der That nur eine weitere Auflage der „Problematischen Naturen," nichts andres. Die Geschichte beginnt in Norderney. Er, der Baron Nandow aus Hinterpommern, hat sich dorthin begeben, um sich von einem gewissen, aus absoluter Leerheit bestehenden Etwas zu kuriren, das seinem Gemüte anhaftet wie der Kuh das Gebresten, wenn sie Wind gefangen hat. Lange, eigentlich immer schon, hat er es mit sich herumgeschleppt, nur daß er es anfangs nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/649>, abgerufen am 28.04.2024.