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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Er winkte ihr, während sie immer noch unbeweglich in ihrer Sofaecke
saß, freundlich von der Thür aus mit der Hand und ging hinaus.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Staatssozialismus.

Warum wir die dumme Sozial- und Wirtschafts¬
politik nicht endlich einmal beiseite ließen und uns lieber mehr auf Kunst und
Wissenschaft verlegten, hat jüngst ein guter Freund der Grenzboten gefragt. Ja,
dann müßten wir den ersten der drei Programmgegenstände, die der Umschlag
ankündigt, einfach streichen, denn was haben wir denn heute noch Politisches außer
der Getreide-, Spiritus-, Mucker-, Margarine-, Schweine-, Tabak-, Eisen-, Que-
bracho-, Gewerbe- und Arbeiterpolitik? Wer dürfte auf Zuhörer und Leser rechnen,
wenn er etwas andres brächte? Und bei Lichte besehen, sind diese nützlichen
Gegenstände in unsrer realistischen Zeit, die Schönheit nicht mehr zu den Er¬
fordernissen der Objekte und Modelle rechnet, gar nicht fo unästhetisch. Werden
sie doch auch mit solchem Pathos und solchem Schwung bebrütete. herrscht doch
in ihrer Behandlung so viel dichterische Freiheit, daß unsre Parlamente schon
längst die eigentliche Geburtsstätte der modernen Poesie geworden sind. Ein reicher
Kranz von Liedern, wie das von der Pfeife des armen Mannes und das vom
geflickten Strohdache des armen Grafen, schlingt sich um diese neuen Musenstätten,
der Roggenpreis ist das neue goldne Vließ, um das der Kampf entbrennt, der,
da er nur in Worten geführt wird, gleich selber zum Epos in 24 Gesängen, alias
Kommissionssitzungen wird, über Spiritus und Zucker werden jetzt eben die schönsten
Novellen gedichtet, und die Verhandlung über die Tabaksteuer hat so reizend mit
einem burlesk drcnuatischeu "Buen" geschlossen wie die Introduktion zum ..Ver¬
spreche" hinter dem Herd."

Abgesehen von der Tabaksteuer tragen alle andern schwebenden Steuer- und
Zollfragen den deutlichen Stempel des Sozialismus an sich. Dem Grafen Kanitz
hats in der Kommissionssitznng am 15. Mai Vollmar haarklein bewiesen, daß die
Annahme feines Antrags die Verstaatlichung der Landwirtschaft zur Folge haben
müßte, und Zentrum und Nationalliberale haben übereinstimmend geurteilt: Vollmar
hat Recht' Zwar beteuern unsre Herrn Staatssozialisten in einem fort: Unsre Vor¬
schläge sind bloß sozial, nicht sozialdemokratisch, sie stehen auf dem Boden der gegen¬
wärtigen Gesellschaftsordnung; allein keine neue Ordnung fällt vom Hummel. lebe
erwächst aus ihrer Vorgängerin. und der Unterschied zwischen agrarisch-sozial in.d
sozialdemokratisch besteht hauptsächlich nur darin, daß es zwei verschleime Klassen
sind, deren jede uuter dem sozialen Panier ihr eignes Interesse versieht, und daß
die Sozialdemokraten weiter hinaussehen. Das Wesentliche des Sozialismus tritt
in deu schwebenden Gesetzentwürfen deutlich hervor: sie sollen teils durch Be-
schränkung der Produktion oder der Einfuhr. teils durch Aussuhrprämien den Preis
der Produkte heben und dem Produzenten das Einkommen sichern, auf das er
Anspruch zu haben glaubt, und sie greife" tief in die freie Erwerbsthätigkeit ein


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Er winkte ihr, während sie immer noch unbeweglich in ihrer Sofaecke
saß, freundlich von der Thür aus mit der Hand und ging hinaus.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Staatssozialismus.

Warum wir die dumme Sozial- und Wirtschafts¬
politik nicht endlich einmal beiseite ließen und uns lieber mehr auf Kunst und
Wissenschaft verlegten, hat jüngst ein guter Freund der Grenzboten gefragt. Ja,
dann müßten wir den ersten der drei Programmgegenstände, die der Umschlag
ankündigt, einfach streichen, denn was haben wir denn heute noch Politisches außer
der Getreide-, Spiritus-, Mucker-, Margarine-, Schweine-, Tabak-, Eisen-, Que-
bracho-, Gewerbe- und Arbeiterpolitik? Wer dürfte auf Zuhörer und Leser rechnen,
wenn er etwas andres brächte? Und bei Lichte besehen, sind diese nützlichen
Gegenstände in unsrer realistischen Zeit, die Schönheit nicht mehr zu den Er¬
fordernissen der Objekte und Modelle rechnet, gar nicht fo unästhetisch. Werden
sie doch auch mit solchem Pathos und solchem Schwung bebrütete. herrscht doch
in ihrer Behandlung so viel dichterische Freiheit, daß unsre Parlamente schon
längst die eigentliche Geburtsstätte der modernen Poesie geworden sind. Ein reicher
Kranz von Liedern, wie das von der Pfeife des armen Mannes und das vom
geflickten Strohdache des armen Grafen, schlingt sich um diese neuen Musenstätten,
der Roggenpreis ist das neue goldne Vließ, um das der Kampf entbrennt, der,
da er nur in Worten geführt wird, gleich selber zum Epos in 24 Gesängen, alias
Kommissionssitzungen wird, über Spiritus und Zucker werden jetzt eben die schönsten
Novellen gedichtet, und die Verhandlung über die Tabaksteuer hat so reizend mit
einem burlesk drcnuatischeu „Buen" geschlossen wie die Introduktion zum ..Ver¬
spreche« hinter dem Herd."

Abgesehen von der Tabaksteuer tragen alle andern schwebenden Steuer- und
Zollfragen den deutlichen Stempel des Sozialismus an sich. Dem Grafen Kanitz
hats in der Kommissionssitznng am 15. Mai Vollmar haarklein bewiesen, daß die
Annahme feines Antrags die Verstaatlichung der Landwirtschaft zur Folge haben
müßte, und Zentrum und Nationalliberale haben übereinstimmend geurteilt: Vollmar
hat Recht' Zwar beteuern unsre Herrn Staatssozialisten in einem fort: Unsre Vor¬
schläge sind bloß sozial, nicht sozialdemokratisch, sie stehen auf dem Boden der gegen¬
wärtigen Gesellschaftsordnung; allein keine neue Ordnung fällt vom Hummel. lebe
erwächst aus ihrer Vorgängerin. und der Unterschied zwischen agrarisch-sozial in.d
sozialdemokratisch besteht hauptsächlich nur darin, daß es zwei verschleime Klassen
sind, deren jede uuter dem sozialen Panier ihr eignes Interesse versieht, und daß
die Sozialdemokraten weiter hinaussehen. Das Wesentliche des Sozialismus tritt
in deu schwebenden Gesetzentwürfen deutlich hervor: sie sollen teils durch Be-
schränkung der Produktion oder der Einfuhr. teils durch Aussuhrprämien den Preis
der Produkte heben und dem Produzenten das Einkommen sichern, auf das er
Anspruch zu haben glaubt, und sie greife» tief in die freie Erwerbsthätigkeit ein


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[0395] Maßgebliches und Unmaßgebliches Er winkte ihr, während sie immer noch unbeweglich in ihrer Sofaecke saß, freundlich von der Thür aus mit der Hand und ging hinaus. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Staatssozialismus. Warum wir die dumme Sozial- und Wirtschafts¬ politik nicht endlich einmal beiseite ließen und uns lieber mehr auf Kunst und Wissenschaft verlegten, hat jüngst ein guter Freund der Grenzboten gefragt. Ja, dann müßten wir den ersten der drei Programmgegenstände, die der Umschlag ankündigt, einfach streichen, denn was haben wir denn heute noch Politisches außer der Getreide-, Spiritus-, Mucker-, Margarine-, Schweine-, Tabak-, Eisen-, Que- bracho-, Gewerbe- und Arbeiterpolitik? Wer dürfte auf Zuhörer und Leser rechnen, wenn er etwas andres brächte? Und bei Lichte besehen, sind diese nützlichen Gegenstände in unsrer realistischen Zeit, die Schönheit nicht mehr zu den Er¬ fordernissen der Objekte und Modelle rechnet, gar nicht fo unästhetisch. Werden sie doch auch mit solchem Pathos und solchem Schwung bebrütete. herrscht doch in ihrer Behandlung so viel dichterische Freiheit, daß unsre Parlamente schon längst die eigentliche Geburtsstätte der modernen Poesie geworden sind. Ein reicher Kranz von Liedern, wie das von der Pfeife des armen Mannes und das vom geflickten Strohdache des armen Grafen, schlingt sich um diese neuen Musenstätten, der Roggenpreis ist das neue goldne Vließ, um das der Kampf entbrennt, der, da er nur in Worten geführt wird, gleich selber zum Epos in 24 Gesängen, alias Kommissionssitzungen wird, über Spiritus und Zucker werden jetzt eben die schönsten Novellen gedichtet, und die Verhandlung über die Tabaksteuer hat so reizend mit einem burlesk drcnuatischeu „Buen" geschlossen wie die Introduktion zum ..Ver¬ spreche« hinter dem Herd." Abgesehen von der Tabaksteuer tragen alle andern schwebenden Steuer- und Zollfragen den deutlichen Stempel des Sozialismus an sich. Dem Grafen Kanitz hats in der Kommissionssitznng am 15. Mai Vollmar haarklein bewiesen, daß die Annahme feines Antrags die Verstaatlichung der Landwirtschaft zur Folge haben müßte, und Zentrum und Nationalliberale haben übereinstimmend geurteilt: Vollmar hat Recht' Zwar beteuern unsre Herrn Staatssozialisten in einem fort: Unsre Vor¬ schläge sind bloß sozial, nicht sozialdemokratisch, sie stehen auf dem Boden der gegen¬ wärtigen Gesellschaftsordnung; allein keine neue Ordnung fällt vom Hummel. lebe erwächst aus ihrer Vorgängerin. und der Unterschied zwischen agrarisch-sozial in.d sozialdemokratisch besteht hauptsächlich nur darin, daß es zwei verschleime Klassen sind, deren jede uuter dem sozialen Panier ihr eignes Interesse versieht, und daß die Sozialdemokraten weiter hinaussehen. Das Wesentliche des Sozialismus tritt in deu schwebenden Gesetzentwürfen deutlich hervor: sie sollen teils durch Be- schränkung der Produktion oder der Einfuhr. teils durch Aussuhrprämien den Preis der Produkte heben und dem Produzenten das Einkommen sichern, auf das er Anspruch zu haben glaubt, und sie greife» tief in die freie Erwerbsthätigkeit ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/395>, abgerufen am 03.05.2024.