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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

tisirenden Menschen so wild und blind macht, daß sich vermeintliche gute Freunde
gegen einen vermeintlichen Feind verbünden und einander dabei gegenseitig das
Fell über die Ohren ziehen.




Litteratur
Geschichte der neuern Philosophie. Von Kuno Fischer. Neue Gesamtausgabe.
H. Band: Friedrich Wilhelm Joseph Schellina. 8. Band: Arthur Schopenhauer. Heidelberg,
Winter. 6. Band 1895; 8. Band 1393

In den vorliegenden Bänden macht das für das Verhältnis unsrer Zeit zur
philosophischen Wissenschaft in weitern Kreisen wichtige Werk zwei bedeutende Fort¬
schritte. Zu der in den siebziger Jahren nur zur Hälfte gegebnen Darstellung der
Lehre Schellings tritt jetzt der Abschluß: die "positive Philosophie" des großen
philosophischen Zauberkünstlers, die vor einem halben Jahrhundert in Berlin mit
atemloser Spannung wie ein Orakel erwartet wurde und doch so wirkungslos blieb
und so gründlich vergessen wurde, daß sie eigentlich erst jetzt in ihren Auslegern
an die Öffentlichkeit zu treten scheint. Dazu gesellt sich mit Überspringung Hegels,
des lange schon in Aussicht gestellten unbeliebten Meisters des beliebten Geschicht¬
schreibers der Philosophie (7. Band!), im 3. Band als neue, der Zeit willkommnere
Erscheinung Arthur Schopenhauer.

Fassen wir zunächst den Helden des nun vollständigen sechsten Bandes ins
Ange. Der "Jdentitätsphilosoph," der sich zunächst nur in den Kopf gesetzt hatte,
Fichte mit Spinoza, das "Ich" mit dem Alleinen, den metaphysischen Nordpol
mit dem Südpol zu vereinen, hat mit dieser Lehre ebenso rasch wie blendend
Glück gemacht. Die Kämpfe und Anfeindungen Fichtes blieben ihm erspart, und
er mußte nicht so lange warten, wie der ältere und doch sehr bescheiden in seinem
Gefolge auftretende, erst spät, aber dann zu Schellings grimmigem Ärger erfolg¬
reich rivalisirende Landsmann Hegel. Unter den Erben, die sich damals unter
dem Zulauf aller Welt um Kants hinterlassenen Geisteshort stritten, galt und kann
noch heute Schelling als der genialste gelten. Nicht etwa, weil er gerade Kants
lieber Sohn und nächster Verwandter gewesen wäre. Hatte Kant schon Fichte, den
er noch erlebte, abgelehnt, was würde er erst zu dem tollkühnen schwäbischen Poeten¬
kopf gesagt haben, der so dreist die psychologische Thatsache, das empirische Ich,
mit der Fichte nur trcmseendentale Dialektik zu treiben gewagt hatte, mir nichts
dir nichts zum Universum aufblähte; der das "Ding an sich" unter dem Vorgeben
hinwegeskamotirte, daß er sich nicht be"dingt" fühle, und der Kants Kritizismus,
diese festeste vernunftgemäße Begründung des erfahrungsmäßigen objektiven Wissens,
mit einem luftigen idealistischen Subjektivismus in eins setzte. In dem Schelling-
schen "Idealismus" träumt sich eine Menschenseele zur "Weltseele" und läßt die
Gebilde ihres Traums sich "depotenziren," "Potenziren" und "absolut selbst¬
erkennen," bis sie endlich wieder "am Ziele des Weltprozesses" zu der "totalen


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tisirenden Menschen so wild und blind macht, daß sich vermeintliche gute Freunde
gegen einen vermeintlichen Feind verbünden und einander dabei gegenseitig das
Fell über die Ohren ziehen.




Litteratur
Geschichte der neuern Philosophie. Von Kuno Fischer. Neue Gesamtausgabe.
H. Band: Friedrich Wilhelm Joseph Schellina. 8. Band: Arthur Schopenhauer. Heidelberg,
Winter. 6. Band 1895; 8. Band 1393

In den vorliegenden Bänden macht das für das Verhältnis unsrer Zeit zur
philosophischen Wissenschaft in weitern Kreisen wichtige Werk zwei bedeutende Fort¬
schritte. Zu der in den siebziger Jahren nur zur Hälfte gegebnen Darstellung der
Lehre Schellings tritt jetzt der Abschluß: die „positive Philosophie" des großen
philosophischen Zauberkünstlers, die vor einem halben Jahrhundert in Berlin mit
atemloser Spannung wie ein Orakel erwartet wurde und doch so wirkungslos blieb
und so gründlich vergessen wurde, daß sie eigentlich erst jetzt in ihren Auslegern
an die Öffentlichkeit zu treten scheint. Dazu gesellt sich mit Überspringung Hegels,
des lange schon in Aussicht gestellten unbeliebten Meisters des beliebten Geschicht¬
schreibers der Philosophie (7. Band!), im 3. Band als neue, der Zeit willkommnere
Erscheinung Arthur Schopenhauer.

Fassen wir zunächst den Helden des nun vollständigen sechsten Bandes ins
Ange. Der „Jdentitätsphilosoph," der sich zunächst nur in den Kopf gesetzt hatte,
Fichte mit Spinoza, das „Ich" mit dem Alleinen, den metaphysischen Nordpol
mit dem Südpol zu vereinen, hat mit dieser Lehre ebenso rasch wie blendend
Glück gemacht. Die Kämpfe und Anfeindungen Fichtes blieben ihm erspart, und
er mußte nicht so lange warten, wie der ältere und doch sehr bescheiden in seinem
Gefolge auftretende, erst spät, aber dann zu Schellings grimmigem Ärger erfolg¬
reich rivalisirende Landsmann Hegel. Unter den Erben, die sich damals unter
dem Zulauf aller Welt um Kants hinterlassenen Geisteshort stritten, galt und kann
noch heute Schelling als der genialste gelten. Nicht etwa, weil er gerade Kants
lieber Sohn und nächster Verwandter gewesen wäre. Hatte Kant schon Fichte, den
er noch erlebte, abgelehnt, was würde er erst zu dem tollkühnen schwäbischen Poeten¬
kopf gesagt haben, der so dreist die psychologische Thatsache, das empirische Ich,
mit der Fichte nur trcmseendentale Dialektik zu treiben gewagt hatte, mir nichts
dir nichts zum Universum aufblähte; der das „Ding an sich" unter dem Vorgeben
hinwegeskamotirte, daß er sich nicht be„dingt" fühle, und der Kants Kritizismus,
diese festeste vernunftgemäße Begründung des erfahrungsmäßigen objektiven Wissens,
mit einem luftigen idealistischen Subjektivismus in eins setzte. In dem Schelling-
schen „Idealismus" träumt sich eine Menschenseele zur „Weltseele" und läßt die
Gebilde ihres Traums sich „depotenziren," „Potenziren" und „absolut selbst¬
erkennen," bis sie endlich wieder „am Ziele des Weltprozesses" zu der „totalen


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[0157] Litteratur tisirenden Menschen so wild und blind macht, daß sich vermeintliche gute Freunde gegen einen vermeintlichen Feind verbünden und einander dabei gegenseitig das Fell über die Ohren ziehen. Litteratur Geschichte der neuern Philosophie. Von Kuno Fischer. Neue Gesamtausgabe. H. Band: Friedrich Wilhelm Joseph Schellina. 8. Band: Arthur Schopenhauer. Heidelberg, Winter. 6. Band 1895; 8. Band 1393 In den vorliegenden Bänden macht das für das Verhältnis unsrer Zeit zur philosophischen Wissenschaft in weitern Kreisen wichtige Werk zwei bedeutende Fort¬ schritte. Zu der in den siebziger Jahren nur zur Hälfte gegebnen Darstellung der Lehre Schellings tritt jetzt der Abschluß: die „positive Philosophie" des großen philosophischen Zauberkünstlers, die vor einem halben Jahrhundert in Berlin mit atemloser Spannung wie ein Orakel erwartet wurde und doch so wirkungslos blieb und so gründlich vergessen wurde, daß sie eigentlich erst jetzt in ihren Auslegern an die Öffentlichkeit zu treten scheint. Dazu gesellt sich mit Überspringung Hegels, des lange schon in Aussicht gestellten unbeliebten Meisters des beliebten Geschicht¬ schreibers der Philosophie (7. Band!), im 3. Band als neue, der Zeit willkommnere Erscheinung Arthur Schopenhauer. Fassen wir zunächst den Helden des nun vollständigen sechsten Bandes ins Ange. Der „Jdentitätsphilosoph," der sich zunächst nur in den Kopf gesetzt hatte, Fichte mit Spinoza, das „Ich" mit dem Alleinen, den metaphysischen Nordpol mit dem Südpol zu vereinen, hat mit dieser Lehre ebenso rasch wie blendend Glück gemacht. Die Kämpfe und Anfeindungen Fichtes blieben ihm erspart, und er mußte nicht so lange warten, wie der ältere und doch sehr bescheiden in seinem Gefolge auftretende, erst spät, aber dann zu Schellings grimmigem Ärger erfolg¬ reich rivalisirende Landsmann Hegel. Unter den Erben, die sich damals unter dem Zulauf aller Welt um Kants hinterlassenen Geisteshort stritten, galt und kann noch heute Schelling als der genialste gelten. Nicht etwa, weil er gerade Kants lieber Sohn und nächster Verwandter gewesen wäre. Hatte Kant schon Fichte, den er noch erlebte, abgelehnt, was würde er erst zu dem tollkühnen schwäbischen Poeten¬ kopf gesagt haben, der so dreist die psychologische Thatsache, das empirische Ich, mit der Fichte nur trcmseendentale Dialektik zu treiben gewagt hatte, mir nichts dir nichts zum Universum aufblähte; der das „Ding an sich" unter dem Vorgeben hinwegeskamotirte, daß er sich nicht be„dingt" fühle, und der Kants Kritizismus, diese festeste vernunftgemäße Begründung des erfahrungsmäßigen objektiven Wissens, mit einem luftigen idealistischen Subjektivismus in eins setzte. In dem Schelling- schen „Idealismus" träumt sich eine Menschenseele zur „Weltseele" und läßt die Gebilde ihres Traums sich „depotenziren," „Potenziren" und „absolut selbst¬ erkennen," bis sie endlich wieder „am Ziele des Weltprozesses" zu der „totalen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/157>, abgerufen am 28.04.2024.