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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Feder." Nein, werte Brüder, beruhigen Sie sich. Ich gehorche nicht der
Not, sondern dem eignen Triebe. Ich bin gänzlich unverheiratet, auch gänzlich
urwerlobt, stehe in den besten Jahren, und wenn ich irgendwelchen Schwund
der Haare zu beklagen Grund habe, so ist es nur an meiner Zahnbürste.
Meine Offenheit wird meinen Widersachern Anlaß geben, mir unterzuschieben,
daß ich mich in die Gunst der Damenwelt im allgemeinen und in das Herz
einer schönen Leserin im besondern hineinschreiben möchte. Aber wenn die
geschätzte Leserin einmal gelegentlich ein Wein- oder Bierlokal betritt, so wird
sie in der gemütlichsten Ecke einen runden Tisch bemerkt haben, der Stamm¬
tisch genannt wird. Sollte ihr in der Mitte ein zierliches Täfelchen mit der
Aufschrift "Reservirt" auffallen, so glaube sie ja nicht, daß dieses Fremdwort
die Herren ernähren soll, in ihren Reden reservirt zu sein. O nein! Das
Täfelchen belehrt fremde Eindringlinge kurz und bündig, daß die Tischgenossen
"unter sich" bleiben wollen. An diesen Stammtischen geht es jedenfalls nicht
besser zu als in den berüchtigtsten Kaffeekränzchen. Die Damen haben doch
meist nur "persönliche" Auseinandersetzungen, an denen es auch an keinem
Stammtisch fehlt. Hier kommt aber noch die politische und die kommunale
Kannegießerei hinzu und gestaltet den Stammtisch zu einer wahren Höhle der
fürchterlichsten Lästermäuligkeit. Hier wird jede Unschuld vernichtet, denn es
giebt auch noch unschuldige Männer, die sich nur um sich und nicht um den
Nächsten bekümmern und dabei reichlich zu thun haben. Wenn eine solche
Unschuld erst einmal das Blut des Stammtischs geleckt hat, dann ist es mit
ihr vorbei. Halb zieht er sie, halb sinkt sie hin, und dann wird er jeden
Abend an derselben Stelle mit dem reservirten Täfelchen gesehen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ein Schritt vorwärts.

Ein halbes Dutzend mal haben wir schon gesagt
und werden es vielleicht noch ebenso oft wiederholen müssen, daß wir nichts sehn¬
licher wünschen, als ein Kabinett Kanitz-Plötz-Mirbach (wir bitten um Entschul¬
digung wegen des Ausdrucks Kabinett; er ist ungenau, wo nicht geradezu falsch;
aber die verwickelten deutschen Verfassuugsverhältnisse jedesmal korrekt zu bezeichnen,
würde eine unerträgliche Umständlichkeit und Schwerfälligkeit erfordern). Das ist
weder ein Scherz noch ironisch, sondern im vollen Ernste gesprochen. Wenn die
"staatserhaltenden, monarchischen, königstreueu, uationcilgesinnteu Parteien" ein paar
Jahre lang in Hunderttausenden, vielleicht in ein Paar Millionen Zeitungsblättern


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Feder." Nein, werte Brüder, beruhigen Sie sich. Ich gehorche nicht der
Not, sondern dem eignen Triebe. Ich bin gänzlich unverheiratet, auch gänzlich
urwerlobt, stehe in den besten Jahren, und wenn ich irgendwelchen Schwund
der Haare zu beklagen Grund habe, so ist es nur an meiner Zahnbürste.
Meine Offenheit wird meinen Widersachern Anlaß geben, mir unterzuschieben,
daß ich mich in die Gunst der Damenwelt im allgemeinen und in das Herz
einer schönen Leserin im besondern hineinschreiben möchte. Aber wenn die
geschätzte Leserin einmal gelegentlich ein Wein- oder Bierlokal betritt, so wird
sie in der gemütlichsten Ecke einen runden Tisch bemerkt haben, der Stamm¬
tisch genannt wird. Sollte ihr in der Mitte ein zierliches Täfelchen mit der
Aufschrift „Reservirt" auffallen, so glaube sie ja nicht, daß dieses Fremdwort
die Herren ernähren soll, in ihren Reden reservirt zu sein. O nein! Das
Täfelchen belehrt fremde Eindringlinge kurz und bündig, daß die Tischgenossen
„unter sich" bleiben wollen. An diesen Stammtischen geht es jedenfalls nicht
besser zu als in den berüchtigtsten Kaffeekränzchen. Die Damen haben doch
meist nur „persönliche" Auseinandersetzungen, an denen es auch an keinem
Stammtisch fehlt. Hier kommt aber noch die politische und die kommunale
Kannegießerei hinzu und gestaltet den Stammtisch zu einer wahren Höhle der
fürchterlichsten Lästermäuligkeit. Hier wird jede Unschuld vernichtet, denn es
giebt auch noch unschuldige Männer, die sich nur um sich und nicht um den
Nächsten bekümmern und dabei reichlich zu thun haben. Wenn eine solche
Unschuld erst einmal das Blut des Stammtischs geleckt hat, dann ist es mit
ihr vorbei. Halb zieht er sie, halb sinkt sie hin, und dann wird er jeden
Abend an derselben Stelle mit dem reservirten Täfelchen gesehen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Ein Schritt vorwärts.

Ein halbes Dutzend mal haben wir schon gesagt
und werden es vielleicht noch ebenso oft wiederholen müssen, daß wir nichts sehn¬
licher wünschen, als ein Kabinett Kanitz-Plötz-Mirbach (wir bitten um Entschul¬
digung wegen des Ausdrucks Kabinett; er ist ungenau, wo nicht geradezu falsch;
aber die verwickelten deutschen Verfassuugsverhältnisse jedesmal korrekt zu bezeichnen,
würde eine unerträgliche Umständlichkeit und Schwerfälligkeit erfordern). Das ist
weder ein Scherz noch ironisch, sondern im vollen Ernste gesprochen. Wenn die
«staatserhaltenden, monarchischen, königstreueu, uationcilgesinnteu Parteien" ein paar
Jahre lang in Hunderttausenden, vielleicht in ein Paar Millionen Zeitungsblättern


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[0396] Maßgebliches und Unmaßgebliches Feder." Nein, werte Brüder, beruhigen Sie sich. Ich gehorche nicht der Not, sondern dem eignen Triebe. Ich bin gänzlich unverheiratet, auch gänzlich urwerlobt, stehe in den besten Jahren, und wenn ich irgendwelchen Schwund der Haare zu beklagen Grund habe, so ist es nur an meiner Zahnbürste. Meine Offenheit wird meinen Widersachern Anlaß geben, mir unterzuschieben, daß ich mich in die Gunst der Damenwelt im allgemeinen und in das Herz einer schönen Leserin im besondern hineinschreiben möchte. Aber wenn die geschätzte Leserin einmal gelegentlich ein Wein- oder Bierlokal betritt, so wird sie in der gemütlichsten Ecke einen runden Tisch bemerkt haben, der Stamm¬ tisch genannt wird. Sollte ihr in der Mitte ein zierliches Täfelchen mit der Aufschrift „Reservirt" auffallen, so glaube sie ja nicht, daß dieses Fremdwort die Herren ernähren soll, in ihren Reden reservirt zu sein. O nein! Das Täfelchen belehrt fremde Eindringlinge kurz und bündig, daß die Tischgenossen „unter sich" bleiben wollen. An diesen Stammtischen geht es jedenfalls nicht besser zu als in den berüchtigtsten Kaffeekränzchen. Die Damen haben doch meist nur „persönliche" Auseinandersetzungen, an denen es auch an keinem Stammtisch fehlt. Hier kommt aber noch die politische und die kommunale Kannegießerei hinzu und gestaltet den Stammtisch zu einer wahren Höhle der fürchterlichsten Lästermäuligkeit. Hier wird jede Unschuld vernichtet, denn es giebt auch noch unschuldige Männer, die sich nur um sich und nicht um den Nächsten bekümmern und dabei reichlich zu thun haben. Wenn eine solche Unschuld erst einmal das Blut des Stammtischs geleckt hat, dann ist es mit ihr vorbei. Halb zieht er sie, halb sinkt sie hin, und dann wird er jeden Abend an derselben Stelle mit dem reservirten Täfelchen gesehen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Ein Schritt vorwärts. Ein halbes Dutzend mal haben wir schon gesagt und werden es vielleicht noch ebenso oft wiederholen müssen, daß wir nichts sehn¬ licher wünschen, als ein Kabinett Kanitz-Plötz-Mirbach (wir bitten um Entschul¬ digung wegen des Ausdrucks Kabinett; er ist ungenau, wo nicht geradezu falsch; aber die verwickelten deutschen Verfassuugsverhältnisse jedesmal korrekt zu bezeichnen, würde eine unerträgliche Umständlichkeit und Schwerfälligkeit erfordern). Das ist weder ein Scherz noch ironisch, sondern im vollen Ernste gesprochen. Wenn die «staatserhaltenden, monarchischen, königstreueu, uationcilgesinnteu Parteien" ein paar Jahre lang in Hunderttausenden, vielleicht in ein Paar Millionen Zeitungsblättern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/396>, abgerufen am 28.04.2024.