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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Genies, und so treffen sie in ihren Grundanschauungen, in ihrer Stellung
zur Zeit immer wieder zusammen, das Gepräge ihrer Werke ist trotz aller
Verschiedenheit nahe verwandt. Man wird kaum noch zwei Dichter in der
deutschen Litteratur finden, die so dicht nebeneinanderstünden, und wenn sich
Hebbel doch in der Gesamtheit seiner Werke bedeutender zeigt, so liegt das
eben nur daran, daß Ludwigs Lebenswerk ein Torso bleiben mußte.

Nun ruhen sie beide mehr als dreißig Jahre im Grabe, der leidenschaft¬
liche Dithmarse, der sich immer wieder trotzig der Welt entgegenstellte wie
seine Vorfahren einst den Feindesscharen und Meereswogen, und der stille
Thüringer, der immer abseits ging und doch auf den Pfaden der echten und
großen Dichtung wandelte. Aber die Zeit ist jetzt nahe, wo sie für ihr ganzes
Volk wieder auferstehen, die beiden echt deutschen Männer, die nicht wie so
manche des neuern Geschlechts Deutsche sein wollten, sondern Deutsche waren,
die der Kunst ein ganzes an Entbehrungen und Enttäuschungen reiches Leben
widmeten und doch nicht mehr begehrten als eine einfache Nische im Pantheon
der deutschen Litteratur. Lange genug hat man sie als poetische Sonderlinge
ausgeschrieen, die in überstolzen Selbstbewußtsein weitab von der großen Heer¬
straße der deutschen Dichter einherschritten und nur für wenige gelebt und ge¬
dichtet hätten. Jetzt erkennt man, daß sie es waren, die das Banner Goethes
und Schillers mit sich führten, und die Straße, die sie gebahnt haben, ist
heute fast die einzig beschreitbare geworden. Möge man ihnen nachfolgen!
Noch ist es nicht zu spät, wenn auch ein ganzes Menschenalter unter mehr
oder minder fruchtlosen Versuchen, eiteln Selbsttäuschungen und leider auch
gaunerischem Betrug des deutschen Volks vergangen ist. Das Beste freilich
kann auch das größte Vorbild, der aufs klarste vorgezeichnete Weg nicht geben.
"Den echten Dichter macht die Ganzheit und Fülle seiner Stimmung," sagt
Otto Ludwig. Aber schon der junge Hebbel schrieb in sein Tagebuch: "Ich
habe die Erfahrung gemacht, daß jeder tüchtige Mensch in einem großen Mann
untergehen muß, wenn er jemals zur Selbsterkenntnis und zum sichern Ge¬
brauch seiner Kräfte gelangen will; ein Prophet tauft den zweiten, und wem
diese Feuertaufe das Haar sengt, der war nicht berufen."




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Bebels und Liebknechts Dummheit.

Nachdem sich unsre Svzialisten-
führer -- ans Verzweiflung, wie im 33. Hefte gezeigt worden ist -- mit ihrem
Agrarprogramm blamirt haben, scheint sie dessen Mißerfolg um den letzten Rest
ihres Verstandes gebracht zu haben. Über die Roheit, das Andenken des ehr-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Genies, und so treffen sie in ihren Grundanschauungen, in ihrer Stellung
zur Zeit immer wieder zusammen, das Gepräge ihrer Werke ist trotz aller
Verschiedenheit nahe verwandt. Man wird kaum noch zwei Dichter in der
deutschen Litteratur finden, die so dicht nebeneinanderstünden, und wenn sich
Hebbel doch in der Gesamtheit seiner Werke bedeutender zeigt, so liegt das
eben nur daran, daß Ludwigs Lebenswerk ein Torso bleiben mußte.

Nun ruhen sie beide mehr als dreißig Jahre im Grabe, der leidenschaft¬
liche Dithmarse, der sich immer wieder trotzig der Welt entgegenstellte wie
seine Vorfahren einst den Feindesscharen und Meereswogen, und der stille
Thüringer, der immer abseits ging und doch auf den Pfaden der echten und
großen Dichtung wandelte. Aber die Zeit ist jetzt nahe, wo sie für ihr ganzes
Volk wieder auferstehen, die beiden echt deutschen Männer, die nicht wie so
manche des neuern Geschlechts Deutsche sein wollten, sondern Deutsche waren,
die der Kunst ein ganzes an Entbehrungen und Enttäuschungen reiches Leben
widmeten und doch nicht mehr begehrten als eine einfache Nische im Pantheon
der deutschen Litteratur. Lange genug hat man sie als poetische Sonderlinge
ausgeschrieen, die in überstolzen Selbstbewußtsein weitab von der großen Heer¬
straße der deutschen Dichter einherschritten und nur für wenige gelebt und ge¬
dichtet hätten. Jetzt erkennt man, daß sie es waren, die das Banner Goethes
und Schillers mit sich führten, und die Straße, die sie gebahnt haben, ist
heute fast die einzig beschreitbare geworden. Möge man ihnen nachfolgen!
Noch ist es nicht zu spät, wenn auch ein ganzes Menschenalter unter mehr
oder minder fruchtlosen Versuchen, eiteln Selbsttäuschungen und leider auch
gaunerischem Betrug des deutschen Volks vergangen ist. Das Beste freilich
kann auch das größte Vorbild, der aufs klarste vorgezeichnete Weg nicht geben.
„Den echten Dichter macht die Ganzheit und Fülle seiner Stimmung," sagt
Otto Ludwig. Aber schon der junge Hebbel schrieb in sein Tagebuch: „Ich
habe die Erfahrung gemacht, daß jeder tüchtige Mensch in einem großen Mann
untergehen muß, wenn er jemals zur Selbsterkenntnis und zum sichern Ge¬
brauch seiner Kräfte gelangen will; ein Prophet tauft den zweiten, und wem
diese Feuertaufe das Haar sengt, der war nicht berufen."




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Bebels und Liebknechts Dummheit.

Nachdem sich unsre Svzialisten-
führer — ans Verzweiflung, wie im 33. Hefte gezeigt worden ist — mit ihrem
Agrarprogramm blamirt haben, scheint sie dessen Mißerfolg um den letzten Rest
ihres Verstandes gebracht zu haben. Über die Roheit, das Andenken des ehr-


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[0536] Maßgebliches und Unmaßgebliches des Genies, und so treffen sie in ihren Grundanschauungen, in ihrer Stellung zur Zeit immer wieder zusammen, das Gepräge ihrer Werke ist trotz aller Verschiedenheit nahe verwandt. Man wird kaum noch zwei Dichter in der deutschen Litteratur finden, die so dicht nebeneinanderstünden, und wenn sich Hebbel doch in der Gesamtheit seiner Werke bedeutender zeigt, so liegt das eben nur daran, daß Ludwigs Lebenswerk ein Torso bleiben mußte. Nun ruhen sie beide mehr als dreißig Jahre im Grabe, der leidenschaft¬ liche Dithmarse, der sich immer wieder trotzig der Welt entgegenstellte wie seine Vorfahren einst den Feindesscharen und Meereswogen, und der stille Thüringer, der immer abseits ging und doch auf den Pfaden der echten und großen Dichtung wandelte. Aber die Zeit ist jetzt nahe, wo sie für ihr ganzes Volk wieder auferstehen, die beiden echt deutschen Männer, die nicht wie so manche des neuern Geschlechts Deutsche sein wollten, sondern Deutsche waren, die der Kunst ein ganzes an Entbehrungen und Enttäuschungen reiches Leben widmeten und doch nicht mehr begehrten als eine einfache Nische im Pantheon der deutschen Litteratur. Lange genug hat man sie als poetische Sonderlinge ausgeschrieen, die in überstolzen Selbstbewußtsein weitab von der großen Heer¬ straße der deutschen Dichter einherschritten und nur für wenige gelebt und ge¬ dichtet hätten. Jetzt erkennt man, daß sie es waren, die das Banner Goethes und Schillers mit sich führten, und die Straße, die sie gebahnt haben, ist heute fast die einzig beschreitbare geworden. Möge man ihnen nachfolgen! Noch ist es nicht zu spät, wenn auch ein ganzes Menschenalter unter mehr oder minder fruchtlosen Versuchen, eiteln Selbsttäuschungen und leider auch gaunerischem Betrug des deutschen Volks vergangen ist. Das Beste freilich kann auch das größte Vorbild, der aufs klarste vorgezeichnete Weg nicht geben. „Den echten Dichter macht die Ganzheit und Fülle seiner Stimmung," sagt Otto Ludwig. Aber schon der junge Hebbel schrieb in sein Tagebuch: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß jeder tüchtige Mensch in einem großen Mann untergehen muß, wenn er jemals zur Selbsterkenntnis und zum sichern Ge¬ brauch seiner Kräfte gelangen will; ein Prophet tauft den zweiten, und wem diese Feuertaufe das Haar sengt, der war nicht berufen." Maßgebliches und Unmaßgebliches Bebels und Liebknechts Dummheit. Nachdem sich unsre Svzialisten- führer — ans Verzweiflung, wie im 33. Hefte gezeigt worden ist — mit ihrem Agrarprogramm blamirt haben, scheint sie dessen Mißerfolg um den letzten Rest ihres Verstandes gebracht zu haben. Über die Roheit, das Andenken des ehr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/536>, abgerufen am 28.04.2024.