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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Zum 20. September

ur zwei große Völker Europas ist dieser September zu einer
unvergleichlichen Festzeit geworden. Zu Anfang dieses Monats
haben wir Deutschen die sünfundzwanzigjährige Erinnerung an
den gewaltigen Sieg begangen, der den Krieg zwar nicht be¬
endete, wie wir damals hofften, aber doch entschied und in der
treuen Waffengemeinschaft von Deutschen aller Stamme die Einheit des Reichs
unter der Kaiserkrone des greisen Siegers begründete. Und am 20. September
feiern die Italiener den Tag, wo vor fünfundzwanzig Jahren ihre Truppen
durch die Porta Pia in Rom einzogen und mit der lange erstrebten Verwirk¬
lichung des Gedankens der Rom" og-xitals ihre nationale Einheit vollendeten.
Beide Ereignisse stehen bekanntlich nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch
in ursächlichen Zusammenhange. Denn hätten die deutschen Waffen bei Sedan
nicht das Napoleonische Kaisertum zerschlagen, so hätte die grün-weiß-rote
Fahne mit dem Kreuze von Savoyen ihren Weg zum Quirinal und Kapitol
noch nicht gefunden.

Doch jener Zusammenhang beruht auf einem noch weit tiefern Grunde,
als auf der glücklichen Ausnutzung einer günstigen politischen und militärischen
Lage, die das weltliche Papsttum schutzlos ließ, er ist begründet in der tausend¬
jährigen Schicksalsgemeinschaft beider Völker. Beiden ist der nationale Zu¬
sammenschluß erschwert worden durch internationale Mächte, die beide auf
derselben Erbschaft des römischen Altertums, der römischen Weltherrschastsidee
beruhten, und die doch beide in der Natur der mittelalterlichen Dinge lagen,
das mittelalterliche Kaisertum und das Papsttum. Denn das Reich war
den deutsch gebliebner Stämmen Mitteleuropas nicht aus ihren eignen Be¬
dürfnissen und Bestrebungen erwachsen, sondern ihnen von außen durch die
fränkische Eroberung auferlegt worden, und es konnte, da es über die damalige


Gr-uzboten III 1895 gg


Zum 20. September

ur zwei große Völker Europas ist dieser September zu einer
unvergleichlichen Festzeit geworden. Zu Anfang dieses Monats
haben wir Deutschen die sünfundzwanzigjährige Erinnerung an
den gewaltigen Sieg begangen, der den Krieg zwar nicht be¬
endete, wie wir damals hofften, aber doch entschied und in der
treuen Waffengemeinschaft von Deutschen aller Stamme die Einheit des Reichs
unter der Kaiserkrone des greisen Siegers begründete. Und am 20. September
feiern die Italiener den Tag, wo vor fünfundzwanzig Jahren ihre Truppen
durch die Porta Pia in Rom einzogen und mit der lange erstrebten Verwirk¬
lichung des Gedankens der Rom» og-xitals ihre nationale Einheit vollendeten.
Beide Ereignisse stehen bekanntlich nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch
in ursächlichen Zusammenhange. Denn hätten die deutschen Waffen bei Sedan
nicht das Napoleonische Kaisertum zerschlagen, so hätte die grün-weiß-rote
Fahne mit dem Kreuze von Savoyen ihren Weg zum Quirinal und Kapitol
noch nicht gefunden.

Doch jener Zusammenhang beruht auf einem noch weit tiefern Grunde,
als auf der glücklichen Ausnutzung einer günstigen politischen und militärischen
Lage, die das weltliche Papsttum schutzlos ließ, er ist begründet in der tausend¬
jährigen Schicksalsgemeinschaft beider Völker. Beiden ist der nationale Zu¬
sammenschluß erschwert worden durch internationale Mächte, die beide auf
derselben Erbschaft des römischen Altertums, der römischen Weltherrschastsidee
beruhten, und die doch beide in der Natur der mittelalterlichen Dinge lagen,
das mittelalterliche Kaisertum und das Papsttum. Denn das Reich war
den deutsch gebliebner Stämmen Mitteleuropas nicht aus ihren eignen Be¬
dürfnissen und Bestrebungen erwachsen, sondern ihnen von außen durch die
fränkische Eroberung auferlegt worden, und es konnte, da es über die damalige


Gr-uzboten III 1895 gg
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[0545] [Abbildung] Zum 20. September ur zwei große Völker Europas ist dieser September zu einer unvergleichlichen Festzeit geworden. Zu Anfang dieses Monats haben wir Deutschen die sünfundzwanzigjährige Erinnerung an den gewaltigen Sieg begangen, der den Krieg zwar nicht be¬ endete, wie wir damals hofften, aber doch entschied und in der treuen Waffengemeinschaft von Deutschen aller Stamme die Einheit des Reichs unter der Kaiserkrone des greisen Siegers begründete. Und am 20. September feiern die Italiener den Tag, wo vor fünfundzwanzig Jahren ihre Truppen durch die Porta Pia in Rom einzogen und mit der lange erstrebten Verwirk¬ lichung des Gedankens der Rom» og-xitals ihre nationale Einheit vollendeten. Beide Ereignisse stehen bekanntlich nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch in ursächlichen Zusammenhange. Denn hätten die deutschen Waffen bei Sedan nicht das Napoleonische Kaisertum zerschlagen, so hätte die grün-weiß-rote Fahne mit dem Kreuze von Savoyen ihren Weg zum Quirinal und Kapitol noch nicht gefunden. Doch jener Zusammenhang beruht auf einem noch weit tiefern Grunde, als auf der glücklichen Ausnutzung einer günstigen politischen und militärischen Lage, die das weltliche Papsttum schutzlos ließ, er ist begründet in der tausend¬ jährigen Schicksalsgemeinschaft beider Völker. Beiden ist der nationale Zu¬ sammenschluß erschwert worden durch internationale Mächte, die beide auf derselben Erbschaft des römischen Altertums, der römischen Weltherrschastsidee beruhten, und die doch beide in der Natur der mittelalterlichen Dinge lagen, das mittelalterliche Kaisertum und das Papsttum. Denn das Reich war den deutsch gebliebner Stämmen Mitteleuropas nicht aus ihren eignen Be¬ dürfnissen und Bestrebungen erwachsen, sondern ihnen von außen durch die fränkische Eroberung auferlegt worden, und es konnte, da es über die damalige Gr-uzboten III 1895 gg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/545>, abgerufen am 28.04.2024.