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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Student am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts

er die Jugend hat, der hat die Zukunft -- dieses bekannte, jüngst
auch von Fürsten Bismarck gebrauchte Wort hat in einer Zeit
des Gährens und Werdens, wie es die unsrige ist, in einer Zeit,
wo alte Ideale stürzen und neue in dämmerhaften Umrissen nur
erst von wenigen erkannt werden, eine besondre Bedeutung. Und
aus demselben Munde, der dem deutschen Volke in den letzten Monaten so
manche goldne Wahrheit verkündet hat, haben wir am 8. April die Mah¬
nung vernommen, daß die Zukunft jedes Landes ans der Minderheit der Ge¬
bildeten beruhe, die es enthalte. Dieser Satz, der dort, wo man von einer
weitern Demokratisirung unsrer Anschauungen und Einrichtungen das Heil er¬
wartet, verstimmt haben wird, legt allen denen, die sich zu den Gebildeten
zählen, Pflichten auf, die um so schwerer und dringender werden, je mehr die
politische Verfassung dem Verlangen nach demokratischer Gleichberechtigung ent¬
gegenkommt, während sich doch zugleich auf andern Gebieten, in Bildung und
Besitz, zwischen der Minderheit des Volkes und der großen Masse eine fast
unüberbrückbare Kluft aufthut.

Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß sich verhältnismäßig nur we¬
nige Menschen in vorgerückten Jahren dazu verstehen, von dem Inventar der
Überzeugungen, die mit ihnen aufgewachsen sind, etwas preiszugeben, um es
durch neue Gedanken, zumal durch solche, die ihnen Entbehrungen oder Pflichten
auflegen würden, zu ersetzen. Daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, ist
heute nicht leichter als vor zweitausend Jahren, und weil dem so ist, haben
es Männer, die sür ihre Pflicht- und entsagungpredigenden Ideen die Zukunft
haben wollen, neuerdings unternommen, die begeisterungsfähige Jugend, vor
allem die studirende, für sich zu gewinnen.'")



*) Bon den Flugschriften an die deutschen Studenten, die im Verlag von Vandenhoeck
und Ruprecht in Göttingen erscheinen, siud uns bis jetzt drei bekannt geworden: Mannes¬
würde und Mädchenehre, von Direktor H. Th. Bauer; Das akademische Studium
und der Kampf um die Weltanschauung, von Professor Dr. M. Reischle, und Der
Student im Verkehr mit den verschiednen Volkskreisen, von Pfarrer Friedrich
Naumann.


Der deutsche Student am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts

er die Jugend hat, der hat die Zukunft — dieses bekannte, jüngst
auch von Fürsten Bismarck gebrauchte Wort hat in einer Zeit
des Gährens und Werdens, wie es die unsrige ist, in einer Zeit,
wo alte Ideale stürzen und neue in dämmerhaften Umrissen nur
erst von wenigen erkannt werden, eine besondre Bedeutung. Und
aus demselben Munde, der dem deutschen Volke in den letzten Monaten so
manche goldne Wahrheit verkündet hat, haben wir am 8. April die Mah¬
nung vernommen, daß die Zukunft jedes Landes ans der Minderheit der Ge¬
bildeten beruhe, die es enthalte. Dieser Satz, der dort, wo man von einer
weitern Demokratisirung unsrer Anschauungen und Einrichtungen das Heil er¬
wartet, verstimmt haben wird, legt allen denen, die sich zu den Gebildeten
zählen, Pflichten auf, die um so schwerer und dringender werden, je mehr die
politische Verfassung dem Verlangen nach demokratischer Gleichberechtigung ent¬
gegenkommt, während sich doch zugleich auf andern Gebieten, in Bildung und
Besitz, zwischen der Minderheit des Volkes und der großen Masse eine fast
unüberbrückbare Kluft aufthut.

Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß sich verhältnismäßig nur we¬
nige Menschen in vorgerückten Jahren dazu verstehen, von dem Inventar der
Überzeugungen, die mit ihnen aufgewachsen sind, etwas preiszugeben, um es
durch neue Gedanken, zumal durch solche, die ihnen Entbehrungen oder Pflichten
auflegen würden, zu ersetzen. Daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, ist
heute nicht leichter als vor zweitausend Jahren, und weil dem so ist, haben
es Männer, die sür ihre Pflicht- und entsagungpredigenden Ideen die Zukunft
haben wollen, neuerdings unternommen, die begeisterungsfähige Jugend, vor
allem die studirende, für sich zu gewinnen.'")



*) Bon den Flugschriften an die deutschen Studenten, die im Verlag von Vandenhoeck
und Ruprecht in Göttingen erscheinen, siud uns bis jetzt drei bekannt geworden: Mannes¬
würde und Mädchenehre, von Direktor H. Th. Bauer; Das akademische Studium
und der Kampf um die Weltanschauung, von Professor Dr. M. Reischle, und Der
Student im Verkehr mit den verschiednen Volkskreisen, von Pfarrer Friedrich
Naumann.
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[0072] [Abbildung] Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts er die Jugend hat, der hat die Zukunft — dieses bekannte, jüngst auch von Fürsten Bismarck gebrauchte Wort hat in einer Zeit des Gährens und Werdens, wie es die unsrige ist, in einer Zeit, wo alte Ideale stürzen und neue in dämmerhaften Umrissen nur erst von wenigen erkannt werden, eine besondre Bedeutung. Und aus demselben Munde, der dem deutschen Volke in den letzten Monaten so manche goldne Wahrheit verkündet hat, haben wir am 8. April die Mah¬ nung vernommen, daß die Zukunft jedes Landes ans der Minderheit der Ge¬ bildeten beruhe, die es enthalte. Dieser Satz, der dort, wo man von einer weitern Demokratisirung unsrer Anschauungen und Einrichtungen das Heil er¬ wartet, verstimmt haben wird, legt allen denen, die sich zu den Gebildeten zählen, Pflichten auf, die um so schwerer und dringender werden, je mehr die politische Verfassung dem Verlangen nach demokratischer Gleichberechtigung ent¬ gegenkommt, während sich doch zugleich auf andern Gebieten, in Bildung und Besitz, zwischen der Minderheit des Volkes und der großen Masse eine fast unüberbrückbare Kluft aufthut. Nun ist es eine bekannte Thatsache, daß sich verhältnismäßig nur we¬ nige Menschen in vorgerückten Jahren dazu verstehen, von dem Inventar der Überzeugungen, die mit ihnen aufgewachsen sind, etwas preiszugeben, um es durch neue Gedanken, zumal durch solche, die ihnen Entbehrungen oder Pflichten auflegen würden, zu ersetzen. Daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, ist heute nicht leichter als vor zweitausend Jahren, und weil dem so ist, haben es Männer, die sür ihre Pflicht- und entsagungpredigenden Ideen die Zukunft haben wollen, neuerdings unternommen, die begeisterungsfähige Jugend, vor allem die studirende, für sich zu gewinnen.'") *) Bon den Flugschriften an die deutschen Studenten, die im Verlag von Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen erscheinen, siud uns bis jetzt drei bekannt geworden: Mannes¬ würde und Mädchenehre, von Direktor H. Th. Bauer; Das akademische Studium und der Kampf um die Weltanschauung, von Professor Dr. M. Reischle, und Der Student im Verkehr mit den verschiednen Volkskreisen, von Pfarrer Friedrich Naumann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/72>, abgerufen am 27.04.2024.