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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts

Auch aus rudern Gründen hat sich die öffentliche Meinung in der letzten
Zeit wiederholt mit der studirenden Jugend beschäftigt. Wir wollen hier nicht
den Schatten der seligen Umsturzvorlage heraufbeschwören, aber etwas Gutes
hat sie doch gebracht, insofern die Beschuldigungen, die im Reichstag gegen
eine Anzahl deutscher Professoren erhoben wurden, einen der Angegriffnen,
Professor Theobald Ziegler in Straßbnrg, veranlaßt haben, die Vorlesungen,
die er vergangnen Winter über die deutschen Studenten der Gegenwart ge¬
halten hat, zu veröffentlichen.*) Dieser Entschluß wird allen, die im Sinne
Bismarcks auf die deutsche Jugend hoffen und sein Wort von der verant¬
wortungsvollen Stellung der gebildeten Minderheit beherzigen, ungelenke
Freude bereiten. Dem, mit einem Freimut, der es begreiflich macht, daß in
dem Straßburger Hörsaal mitunter ein Scharren des Mißfallens seine Aus¬
führungen begleitete, sagt Ziegler der studirenden Jugend die Wahrheit, und
er sagt sie in so packender, geistsprühcnder Weise, wie wir es -- von ihm ge¬
wöhnt sind. Daß dabei auch für die Eltern und einige andre Nichtstudenten
ab und zu eine Wahrheit abfällt, erhöht den Wert des Buches.

Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts -- ver¬
dient der wirklich außer der Beachtung, die ihm in den Fliegenden Blättern
geschenkt wird, Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu werden? Und
selbst wenn man diese Frage bejaht, bleibt es auch dann nicht etwas selt¬
sames, daß ein Professor diesem Gegenstände siebzehn Vorlesungen widmet?
Ungewöhnlich ist das Vorgehen Zieglcrs auf jeden Fall, und er gesteht selbst,
daß ihm nach der Ankündigung seiner Vorlesungen mehr als einmal die Frage
vorgelegt worden sei, was er denn eigentlich damit bezwecke. Auf diese und
ähnliche Fragen giebt er in der einleitenden Vorlesung folgende Antwort:
"Wir leben in einer Übergangszeit. Vielleicht niemals ist es am Ende einer
Periode einem Geschlecht so klar gewesen wie uns heute, daß das kommende
Jahrhundert einen ganz andern Charakter haben werde, ja haben müsse, als
das eben zu Ende gehende____ So gährt und brodelt es rings um uns her
und reißt uns alle in seinen Strudel mit hinein; und schwerer als je ist es
daher auch sür den Einzelnen, in diesem Chaos, wo alles fließt, einen festen
Fuß und Halt zu fassen, schwer auch für den guten Menschen, in seinein
dunkeln Drange sich des rechten Weges wohl bewußt zu bleiben, schwer für
den Werdenden, zu wissen, was er werden soll, und zu werden, was er werden
will. Selten aber war es vor allem je so schwer wie heute, ein Charakter
zu werden und ein charaktervoller Mensch zu sein und zu bleiben. Das alles
trifft den deutschen Studenten in erster Linie und mit voller Wucht. Wir
Ältern wurzeln noch mehr oder weniger fest im neunzehnten Jahrhundert und



*) Theobald Ziegler, Der deutsche Student am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts. Stuttgart, Göschen.
Grenzboten III 1395 9
Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts

Auch aus rudern Gründen hat sich die öffentliche Meinung in der letzten
Zeit wiederholt mit der studirenden Jugend beschäftigt. Wir wollen hier nicht
den Schatten der seligen Umsturzvorlage heraufbeschwören, aber etwas Gutes
hat sie doch gebracht, insofern die Beschuldigungen, die im Reichstag gegen
eine Anzahl deutscher Professoren erhoben wurden, einen der Angegriffnen,
Professor Theobald Ziegler in Straßbnrg, veranlaßt haben, die Vorlesungen,
die er vergangnen Winter über die deutschen Studenten der Gegenwart ge¬
halten hat, zu veröffentlichen.*) Dieser Entschluß wird allen, die im Sinne
Bismarcks auf die deutsche Jugend hoffen und sein Wort von der verant¬
wortungsvollen Stellung der gebildeten Minderheit beherzigen, ungelenke
Freude bereiten. Dem, mit einem Freimut, der es begreiflich macht, daß in
dem Straßburger Hörsaal mitunter ein Scharren des Mißfallens seine Aus¬
führungen begleitete, sagt Ziegler der studirenden Jugend die Wahrheit, und
er sagt sie in so packender, geistsprühcnder Weise, wie wir es — von ihm ge¬
wöhnt sind. Daß dabei auch für die Eltern und einige andre Nichtstudenten
ab und zu eine Wahrheit abfällt, erhöht den Wert des Buches.

Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts — ver¬
dient der wirklich außer der Beachtung, die ihm in den Fliegenden Blättern
geschenkt wird, Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu werden? Und
selbst wenn man diese Frage bejaht, bleibt es auch dann nicht etwas selt¬
sames, daß ein Professor diesem Gegenstände siebzehn Vorlesungen widmet?
Ungewöhnlich ist das Vorgehen Zieglcrs auf jeden Fall, und er gesteht selbst,
daß ihm nach der Ankündigung seiner Vorlesungen mehr als einmal die Frage
vorgelegt worden sei, was er denn eigentlich damit bezwecke. Auf diese und
ähnliche Fragen giebt er in der einleitenden Vorlesung folgende Antwort:
„Wir leben in einer Übergangszeit. Vielleicht niemals ist es am Ende einer
Periode einem Geschlecht so klar gewesen wie uns heute, daß das kommende
Jahrhundert einen ganz andern Charakter haben werde, ja haben müsse, als
das eben zu Ende gehende____ So gährt und brodelt es rings um uns her
und reißt uns alle in seinen Strudel mit hinein; und schwerer als je ist es
daher auch sür den Einzelnen, in diesem Chaos, wo alles fließt, einen festen
Fuß und Halt zu fassen, schwer auch für den guten Menschen, in seinein
dunkeln Drange sich des rechten Weges wohl bewußt zu bleiben, schwer für
den Werdenden, zu wissen, was er werden soll, und zu werden, was er werden
will. Selten aber war es vor allem je so schwer wie heute, ein Charakter
zu werden und ein charaktervoller Mensch zu sein und zu bleiben. Das alles
trifft den deutschen Studenten in erster Linie und mit voller Wucht. Wir
Ältern wurzeln noch mehr oder weniger fest im neunzehnten Jahrhundert und



*) Theobald Ziegler, Der deutsche Student am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts. Stuttgart, Göschen.
Grenzboten III 1395 9
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[0073] Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Auch aus rudern Gründen hat sich die öffentliche Meinung in der letzten Zeit wiederholt mit der studirenden Jugend beschäftigt. Wir wollen hier nicht den Schatten der seligen Umsturzvorlage heraufbeschwören, aber etwas Gutes hat sie doch gebracht, insofern die Beschuldigungen, die im Reichstag gegen eine Anzahl deutscher Professoren erhoben wurden, einen der Angegriffnen, Professor Theobald Ziegler in Straßbnrg, veranlaßt haben, die Vorlesungen, die er vergangnen Winter über die deutschen Studenten der Gegenwart ge¬ halten hat, zu veröffentlichen.*) Dieser Entschluß wird allen, die im Sinne Bismarcks auf die deutsche Jugend hoffen und sein Wort von der verant¬ wortungsvollen Stellung der gebildeten Minderheit beherzigen, ungelenke Freude bereiten. Dem, mit einem Freimut, der es begreiflich macht, daß in dem Straßburger Hörsaal mitunter ein Scharren des Mißfallens seine Aus¬ führungen begleitete, sagt Ziegler der studirenden Jugend die Wahrheit, und er sagt sie in so packender, geistsprühcnder Weise, wie wir es — von ihm ge¬ wöhnt sind. Daß dabei auch für die Eltern und einige andre Nichtstudenten ab und zu eine Wahrheit abfällt, erhöht den Wert des Buches. Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts — ver¬ dient der wirklich außer der Beachtung, die ihm in den Fliegenden Blättern geschenkt wird, Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu werden? Und selbst wenn man diese Frage bejaht, bleibt es auch dann nicht etwas selt¬ sames, daß ein Professor diesem Gegenstände siebzehn Vorlesungen widmet? Ungewöhnlich ist das Vorgehen Zieglcrs auf jeden Fall, und er gesteht selbst, daß ihm nach der Ankündigung seiner Vorlesungen mehr als einmal die Frage vorgelegt worden sei, was er denn eigentlich damit bezwecke. Auf diese und ähnliche Fragen giebt er in der einleitenden Vorlesung folgende Antwort: „Wir leben in einer Übergangszeit. Vielleicht niemals ist es am Ende einer Periode einem Geschlecht so klar gewesen wie uns heute, daß das kommende Jahrhundert einen ganz andern Charakter haben werde, ja haben müsse, als das eben zu Ende gehende____ So gährt und brodelt es rings um uns her und reißt uns alle in seinen Strudel mit hinein; und schwerer als je ist es daher auch sür den Einzelnen, in diesem Chaos, wo alles fließt, einen festen Fuß und Halt zu fassen, schwer auch für den guten Menschen, in seinein dunkeln Drange sich des rechten Weges wohl bewußt zu bleiben, schwer für den Werdenden, zu wissen, was er werden soll, und zu werden, was er werden will. Selten aber war es vor allem je so schwer wie heute, ein Charakter zu werden und ein charaktervoller Mensch zu sein und zu bleiben. Das alles trifft den deutschen Studenten in erster Linie und mit voller Wucht. Wir Ältern wurzeln noch mehr oder weniger fest im neunzehnten Jahrhundert und *) Theobald Ziegler, Der deutsche Student am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Stuttgart, Göschen. Grenzboten III 1395 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/73>, abgerufen am 11.05.2024.