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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August (Loute und der Positivismus

er Positivismus könnte uns in dem heutigen Chaos gute Dienste
leisten. Die Religion einigt bei uns nicht, sondern entzweit.
Die ältere Philosophie ist eine Sache kleiner Gelehrtenschulen
und steht dem modernen Leben mit seinen Interessen völlig fremd
gegenüber. Lotze hat eine größere Gemeinde als z. B. Kant oder
Hegel, eignet sich aber nur für den Privatgcbrciuch und enthält nichts, was
die Massen einigen könnte. Pessimisten haben wir genug, aber der Pessimismus
kann, was auch sein noch lebender berühmter Vertreter dagegen sagen mag,
unmöglich empfohlen werden, weil er die Thatkraft lahmt. Der rohe Mate¬
rialismus darf als abgethan gelten, und auch dem feinern, dem umgekehrten
Hcgeltum der Marxisten, vermögen wir nicht beizupflichten. Demnach bleibt
vor der Hand eigentlich nichts übrig als der Positivismus, der einerseits den
Anforderungen der Wissenschaft entspricht, andrerseits die sittlichen Ideale fest¬
hält und zugleich ganz und gar den praktischen Bestrebungen unsrer Zeit zu¬
gewendet, daher geeignet ist, die Massen anzuziehen. Ohne diese Weltansicht
mit ihren Aposteln als die allein seligmachende Religion empfehlen zu wollen,
glauben wir ihr unter diesen Umständen doch Beachtung schenken zu müssen
und halten ihre Verbreitung für verdienstlich. Schulze-Gävernitz hat ihr in
seinem Werke: Zum sozialen Frieden, eines der schönsten Kapitel gewidmet,
und vor zwei Jahren ist eine Monographie erschienen: Auguste Comte und
seine Bedeutung für die Entwicklung der Sozialwissenschaft von Dr. Heinrich
Waentig (Leipzig, Duncker und Humblot, 1894), die uns zu einigen Betrach¬
tungen über den Gegenstand anregt. Der Einführung eines größern Publikums
in den Positivistischen Gedankenkreis dient Schutzes Kapitel besser als Waentigs
Vues. Dieses enthält zu viel Dissertationengelchrsamkeit; es sucht nachzu¬
weisen, aus welchen Vorläufern Comte geschöpft hat und wie weit seine Ge¬
danken in das Geistesleben der Franzosen, der Engländer und der Deutschen
übergegangen sind. Dabei erfahren wir, was jeder über oder gegen Comte und
was in der Sache jeder gegen jeden gesagt und geschrieben hat, wodurch der Leser
mehr verwirrt als belehrt wird. Dankenswert ist der Hinweis auf Turgvt als
den Vater einiger Grundgedanken Comtes und der Nachweis, wie Comtes Welt¬
ansicht aus einer Verschmelzung De Maistres und Se. Simons, des Ultrn-
montanismus mit dem Sozialismus entstanden ist, wodurch sich aber niemand




August (Loute und der Positivismus

er Positivismus könnte uns in dem heutigen Chaos gute Dienste
leisten. Die Religion einigt bei uns nicht, sondern entzweit.
Die ältere Philosophie ist eine Sache kleiner Gelehrtenschulen
und steht dem modernen Leben mit seinen Interessen völlig fremd
gegenüber. Lotze hat eine größere Gemeinde als z. B. Kant oder
Hegel, eignet sich aber nur für den Privatgcbrciuch und enthält nichts, was
die Massen einigen könnte. Pessimisten haben wir genug, aber der Pessimismus
kann, was auch sein noch lebender berühmter Vertreter dagegen sagen mag,
unmöglich empfohlen werden, weil er die Thatkraft lahmt. Der rohe Mate¬
rialismus darf als abgethan gelten, und auch dem feinern, dem umgekehrten
Hcgeltum der Marxisten, vermögen wir nicht beizupflichten. Demnach bleibt
vor der Hand eigentlich nichts übrig als der Positivismus, der einerseits den
Anforderungen der Wissenschaft entspricht, andrerseits die sittlichen Ideale fest¬
hält und zugleich ganz und gar den praktischen Bestrebungen unsrer Zeit zu¬
gewendet, daher geeignet ist, die Massen anzuziehen. Ohne diese Weltansicht
mit ihren Aposteln als die allein seligmachende Religion empfehlen zu wollen,
glauben wir ihr unter diesen Umständen doch Beachtung schenken zu müssen
und halten ihre Verbreitung für verdienstlich. Schulze-Gävernitz hat ihr in
seinem Werke: Zum sozialen Frieden, eines der schönsten Kapitel gewidmet,
und vor zwei Jahren ist eine Monographie erschienen: Auguste Comte und
seine Bedeutung für die Entwicklung der Sozialwissenschaft von Dr. Heinrich
Waentig (Leipzig, Duncker und Humblot, 1894), die uns zu einigen Betrach¬
tungen über den Gegenstand anregt. Der Einführung eines größern Publikums
in den Positivistischen Gedankenkreis dient Schutzes Kapitel besser als Waentigs
Vues. Dieses enthält zu viel Dissertationengelchrsamkeit; es sucht nachzu¬
weisen, aus welchen Vorläufern Comte geschöpft hat und wie weit seine Ge¬
danken in das Geistesleben der Franzosen, der Engländer und der Deutschen
übergegangen sind. Dabei erfahren wir, was jeder über oder gegen Comte und
was in der Sache jeder gegen jeden gesagt und geschrieben hat, wodurch der Leser
mehr verwirrt als belehrt wird. Dankenswert ist der Hinweis auf Turgvt als
den Vater einiger Grundgedanken Comtes und der Nachweis, wie Comtes Welt¬
ansicht aus einer Verschmelzung De Maistres und Se. Simons, des Ultrn-
montanismus mit dem Sozialismus entstanden ist, wodurch sich aber niemand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/118>, abgerufen am 28.04.2024.