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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August Loute und der Positivismus

von Comte abschrecken lassen darf; denn nicht das spezifisch Ultramontane,
fondern nur die christliche Ethik hat Comte seinen ultramontanen Lehrern ent¬
nommen, und wie schroff er gerade in den Punkten, die uns am anstößigsten
scheinen, dem Sozialismus entgegentritt, davon wird noch die Rede sein; der
Vorwurf Nietzsches, daß er der klügste Jesuit gewesen sei und die Franzosen
auf dem Umwege der Wissenschaft nach Rom habe führen wollen, ist unbe¬
gründet. Was die Verbreitung des Positivismus bei den drei großen Kultur¬
völkern anlangt, so hat er in Frankreich am wenigsten Anklang gefunden, weil,
wie Waentig meint, Comtes Denken und Empfinden durchaus unfranzösisch
ist. In England ist er eine Macht geworden. In Deutschland hat Comte
erst spät, in neuerer Zeit, Eingang gefunden, und dabei hat es sich gezeigt,
daß sich die deutschen Denker parallel mit Comte entwickelt haben; Schäffles
großes soziologisches Werk war schon fertig, als er mit Comte bekannt wurde.
Um zum Studium des Positivismus anzuregen, reihen wir hier einige Ge¬
danken über die drei Grundideen Comtes an einander.

Die erste ist die Idee der Soziologie als der Universalwissenschaft. Comte
will die mathematisch-physikalische Methode auf die uns am nächsten und am
meisten am Herzen liegenden Gegenstände: den Menschengeist und die mensch¬
liche Gesellschaft anwenden. Das war nun auch schon zu Comtes Zeiten
eigentlich nichts neues mehr. Unter den Deutschen ist es bekanntlich Herbart
gewesen, der das Geistesleben geradezu in einen Mechanismus aufgelöst und
die Psychologie so mathematisch behandelt hat, daß seine Bücher von mathe¬
matischen Formeln wimmeln. Es ist sonderbar, daß Waentig, der alle Be¬
ziehungen seines Helden zu andern Geistern aufspürt, gerade den einen Herbart
nicht erwähnt, obwohl in diesem so vieles an Comte erinnert; nicht bloß die
mathematisch-physikalische Methode im allgemeinen, sondern auch vieles einzelne.
So z. V. tadelt es Herbart, wie Comte, daß die Psychologen bisher immer
nur den Geist des zivilisirten Europäers, oder gar nur ihren eignen, also
einen Philosophengeist untersucht hätten; das Kind, den Naturmenschen, das
Tier müsse man studiren, wenn man das Seelenleben kennen lernen wolle.
Und Herbart betrachtet auch schon das gesellschaftliche und das Staatsleben
als ein dem Gewebe der Vorstellungen in der Einzelseele ähnliches Gewebe
und die Veränderungen darin als denselben Gesetzen unterliegend wie die
Assoziativ", die Auslösung, die Aufeinanderfolge der Borstellnngen und Vor¬
stellungsreihen, nur daß er, wenn wir uns recht erinnern, den Gegensatz der
Lehre vom Gleichgewichtszustände, der Statik, nicht wie Comte Dynamik,
sondern Mechanik nennt.

Daß das Seelenleben, demnach auch das auf dem Zusammenwirken be¬
seelter und zugleich in ihrem Dasein von der Natur abhängiger Leiber be¬
ruhende Gesellschaftsleben gesetzlich verlaufen müsse, das war eben eine Wahr¬
heit, die sich allen Männern der Wissenschaft aufdrängen mußte, sobald man


August Loute und der Positivismus

von Comte abschrecken lassen darf; denn nicht das spezifisch Ultramontane,
fondern nur die christliche Ethik hat Comte seinen ultramontanen Lehrern ent¬
nommen, und wie schroff er gerade in den Punkten, die uns am anstößigsten
scheinen, dem Sozialismus entgegentritt, davon wird noch die Rede sein; der
Vorwurf Nietzsches, daß er der klügste Jesuit gewesen sei und die Franzosen
auf dem Umwege der Wissenschaft nach Rom habe führen wollen, ist unbe¬
gründet. Was die Verbreitung des Positivismus bei den drei großen Kultur¬
völkern anlangt, so hat er in Frankreich am wenigsten Anklang gefunden, weil,
wie Waentig meint, Comtes Denken und Empfinden durchaus unfranzösisch
ist. In England ist er eine Macht geworden. In Deutschland hat Comte
erst spät, in neuerer Zeit, Eingang gefunden, und dabei hat es sich gezeigt,
daß sich die deutschen Denker parallel mit Comte entwickelt haben; Schäffles
großes soziologisches Werk war schon fertig, als er mit Comte bekannt wurde.
Um zum Studium des Positivismus anzuregen, reihen wir hier einige Ge¬
danken über die drei Grundideen Comtes an einander.

Die erste ist die Idee der Soziologie als der Universalwissenschaft. Comte
will die mathematisch-physikalische Methode auf die uns am nächsten und am
meisten am Herzen liegenden Gegenstände: den Menschengeist und die mensch¬
liche Gesellschaft anwenden. Das war nun auch schon zu Comtes Zeiten
eigentlich nichts neues mehr. Unter den Deutschen ist es bekanntlich Herbart
gewesen, der das Geistesleben geradezu in einen Mechanismus aufgelöst und
die Psychologie so mathematisch behandelt hat, daß seine Bücher von mathe¬
matischen Formeln wimmeln. Es ist sonderbar, daß Waentig, der alle Be¬
ziehungen seines Helden zu andern Geistern aufspürt, gerade den einen Herbart
nicht erwähnt, obwohl in diesem so vieles an Comte erinnert; nicht bloß die
mathematisch-physikalische Methode im allgemeinen, sondern auch vieles einzelne.
So z. V. tadelt es Herbart, wie Comte, daß die Psychologen bisher immer
nur den Geist des zivilisirten Europäers, oder gar nur ihren eignen, also
einen Philosophengeist untersucht hätten; das Kind, den Naturmenschen, das
Tier müsse man studiren, wenn man das Seelenleben kennen lernen wolle.
Und Herbart betrachtet auch schon das gesellschaftliche und das Staatsleben
als ein dem Gewebe der Vorstellungen in der Einzelseele ähnliches Gewebe
und die Veränderungen darin als denselben Gesetzen unterliegend wie die
Assoziativ», die Auslösung, die Aufeinanderfolge der Borstellnngen und Vor¬
stellungsreihen, nur daß er, wenn wir uns recht erinnern, den Gegensatz der
Lehre vom Gleichgewichtszustände, der Statik, nicht wie Comte Dynamik,
sondern Mechanik nennt.

Daß das Seelenleben, demnach auch das auf dem Zusammenwirken be¬
seelter und zugleich in ihrem Dasein von der Natur abhängiger Leiber be¬
ruhende Gesellschaftsleben gesetzlich verlaufen müsse, das war eben eine Wahr¬
heit, die sich allen Männern der Wissenschaft aufdrängen mußte, sobald man


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[0119] August Loute und der Positivismus von Comte abschrecken lassen darf; denn nicht das spezifisch Ultramontane, fondern nur die christliche Ethik hat Comte seinen ultramontanen Lehrern ent¬ nommen, und wie schroff er gerade in den Punkten, die uns am anstößigsten scheinen, dem Sozialismus entgegentritt, davon wird noch die Rede sein; der Vorwurf Nietzsches, daß er der klügste Jesuit gewesen sei und die Franzosen auf dem Umwege der Wissenschaft nach Rom habe führen wollen, ist unbe¬ gründet. Was die Verbreitung des Positivismus bei den drei großen Kultur¬ völkern anlangt, so hat er in Frankreich am wenigsten Anklang gefunden, weil, wie Waentig meint, Comtes Denken und Empfinden durchaus unfranzösisch ist. In England ist er eine Macht geworden. In Deutschland hat Comte erst spät, in neuerer Zeit, Eingang gefunden, und dabei hat es sich gezeigt, daß sich die deutschen Denker parallel mit Comte entwickelt haben; Schäffles großes soziologisches Werk war schon fertig, als er mit Comte bekannt wurde. Um zum Studium des Positivismus anzuregen, reihen wir hier einige Ge¬ danken über die drei Grundideen Comtes an einander. Die erste ist die Idee der Soziologie als der Universalwissenschaft. Comte will die mathematisch-physikalische Methode auf die uns am nächsten und am meisten am Herzen liegenden Gegenstände: den Menschengeist und die mensch¬ liche Gesellschaft anwenden. Das war nun auch schon zu Comtes Zeiten eigentlich nichts neues mehr. Unter den Deutschen ist es bekanntlich Herbart gewesen, der das Geistesleben geradezu in einen Mechanismus aufgelöst und die Psychologie so mathematisch behandelt hat, daß seine Bücher von mathe¬ matischen Formeln wimmeln. Es ist sonderbar, daß Waentig, der alle Be¬ ziehungen seines Helden zu andern Geistern aufspürt, gerade den einen Herbart nicht erwähnt, obwohl in diesem so vieles an Comte erinnert; nicht bloß die mathematisch-physikalische Methode im allgemeinen, sondern auch vieles einzelne. So z. V. tadelt es Herbart, wie Comte, daß die Psychologen bisher immer nur den Geist des zivilisirten Europäers, oder gar nur ihren eignen, also einen Philosophengeist untersucht hätten; das Kind, den Naturmenschen, das Tier müsse man studiren, wenn man das Seelenleben kennen lernen wolle. Und Herbart betrachtet auch schon das gesellschaftliche und das Staatsleben als ein dem Gewebe der Vorstellungen in der Einzelseele ähnliches Gewebe und die Veränderungen darin als denselben Gesetzen unterliegend wie die Assoziativ», die Auslösung, die Aufeinanderfolge der Borstellnngen und Vor¬ stellungsreihen, nur daß er, wenn wir uns recht erinnern, den Gegensatz der Lehre vom Gleichgewichtszustände, der Statik, nicht wie Comte Dynamik, sondern Mechanik nennt. Daß das Seelenleben, demnach auch das auf dem Zusammenwirken be¬ seelter und zugleich in ihrem Dasein von der Natur abhängiger Leiber be¬ ruhende Gesellschaftsleben gesetzlich verlaufen müsse, das war eben eine Wahr¬ heit, die sich allen Männern der Wissenschaft aufdrängen mußte, sobald man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/119>, abgerufen am 13.05.2024.