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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Leben wirken will und kann, sondern mit einem gewaltsamen Bruch beginnen
muß. In der Erkenntnis der Jünger über den notwendigen Ausgang des
Meisters, in dem leisen Übergewicht, das die unscheinbaren Vorzüge der Mutter
und der Kinder über die gewaltthätige Große Adlers erlangen, gewinnt ein
mächtiges Stück Leben und Wahrheit poetische Gestalt. Ihre künstlerische Reife
und Reinheit bringt uns den herben und schweren Ernst dieser Dichtung nahe,
an ihr messen wir zugleich die Höhe, die Wilbrandts Entwicklung erreicht hat.

Möglich, daß ihn das Gesetz seiner Natur vorübergehend wieder in etwas
tiefer liegende Regionen des Lebens und Bittens führt, der Episodcnroman
"Die Nothenburger" scheint darauf hinzudeuten. Wir dürfen die Zuversicht
hegen, daß der Dichter auch mit diesem innerlich mächtigen Roman aus der
Gegenwart sein letztes Wort noch uicht gesprochen hat. Wie sagt er in dem
schon angeführten "Gespräch, das fast zur Biographie wird"? "Ich habe nie
eine Hand oder die Zunge gerührt, um "Erfolg" zu haben, und der Erfolg
des Tages war mir nichts gegen den der Zeit. Diese Dichtungen haben oft
lange in mir gelebt, ehe ich sie schrieb, lange im Pulte gelegen, ehe ich sie
ans Licht gab; so mögen sie denn auch noch lange im Lichte leben, ehe sie
wirken. Oder kam eine tot zur Welt, ich lebe ja noch, andre zu schaffen!"




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Vom Priesteramt der Presse. Pontifex heißt Briickcnmacher; das Priester¬
mut ist ein Brückenbauer- oder Mittleramt. Ein solches wird allgemein der Presse
Angewiesen. So weit gehen wir zwar nicht in der Schätzung dieser Großmacht
Wie der Bischof Ketteler, der auf die Frage, was der Apostel Paulus thun würde,
wenn er heute seines Amtes zu walten hätte, geantwortet haben soll: er würde
eine Zeitung gründen; wir sagen vielmehr: nein, das würde er ganz gewiß nicht
thun. Aber daß unter allen heute bestehenden Priesterschaften die der Presse die
einflußreichste ist, das kann allerdings uicht geleugnet werden. Die Presse hat einmal
die Ergebnisse der Denkarbeit der führenden Geister den Massen und dann einem
jeden die Ereignisse des Tages zu übermitteln, dadurch jeden mit jedem in Ver¬
bindung zu setzen und gemeinsames, zweckentsprechendes Handeln möglich zu machen.
Es ist nun eine alte Klage, daß sie ihres Amtes oft schlecht genug walte, und täglich
berechtigt sie zu dieser Klage aufs neue. Wir halten den Prager Parteitag der
Sozialdemokraten bei weitem nicht für so wichtig, wie ihn die "Genossen" in ihrer
gewöhnlichen Selbstüberschätzung halten; aber bedeutend wichtiger als ein Besuch des
Herrn Jswolsly beim Papste, die Reise des Feldzeugmeisters David "ach Cattaro
und der Sieg eines ungarischen Athleten beim Wettlauf in Athen ist er ohne Frage;
deshalb hat die Wiener Arbeiterzeitung Recht mit ihrem Spott darüber, daß das


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Leben wirken will und kann, sondern mit einem gewaltsamen Bruch beginnen
muß. In der Erkenntnis der Jünger über den notwendigen Ausgang des
Meisters, in dem leisen Übergewicht, das die unscheinbaren Vorzüge der Mutter
und der Kinder über die gewaltthätige Große Adlers erlangen, gewinnt ein
mächtiges Stück Leben und Wahrheit poetische Gestalt. Ihre künstlerische Reife
und Reinheit bringt uns den herben und schweren Ernst dieser Dichtung nahe,
an ihr messen wir zugleich die Höhe, die Wilbrandts Entwicklung erreicht hat.

Möglich, daß ihn das Gesetz seiner Natur vorübergehend wieder in etwas
tiefer liegende Regionen des Lebens und Bittens führt, der Episodcnroman
„Die Nothenburger" scheint darauf hinzudeuten. Wir dürfen die Zuversicht
hegen, daß der Dichter auch mit diesem innerlich mächtigen Roman aus der
Gegenwart sein letztes Wort noch uicht gesprochen hat. Wie sagt er in dem
schon angeführten „Gespräch, das fast zur Biographie wird"? „Ich habe nie
eine Hand oder die Zunge gerührt, um »Erfolg« zu haben, und der Erfolg
des Tages war mir nichts gegen den der Zeit. Diese Dichtungen haben oft
lange in mir gelebt, ehe ich sie schrieb, lange im Pulte gelegen, ehe ich sie
ans Licht gab; so mögen sie denn auch noch lange im Lichte leben, ehe sie
wirken. Oder kam eine tot zur Welt, ich lebe ja noch, andre zu schaffen!"




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Vom Priesteramt der Presse. Pontifex heißt Briickcnmacher; das Priester¬
mut ist ein Brückenbauer- oder Mittleramt. Ein solches wird allgemein der Presse
Angewiesen. So weit gehen wir zwar nicht in der Schätzung dieser Großmacht
Wie der Bischof Ketteler, der auf die Frage, was der Apostel Paulus thun würde,
wenn er heute seines Amtes zu walten hätte, geantwortet haben soll: er würde
eine Zeitung gründen; wir sagen vielmehr: nein, das würde er ganz gewiß nicht
thun. Aber daß unter allen heute bestehenden Priesterschaften die der Presse die
einflußreichste ist, das kann allerdings uicht geleugnet werden. Die Presse hat einmal
die Ergebnisse der Denkarbeit der führenden Geister den Massen und dann einem
jeden die Ereignisse des Tages zu übermitteln, dadurch jeden mit jedem in Ver¬
bindung zu setzen und gemeinsames, zweckentsprechendes Handeln möglich zu machen.
Es ist nun eine alte Klage, daß sie ihres Amtes oft schlecht genug walte, und täglich
berechtigt sie zu dieser Klage aufs neue. Wir halten den Prager Parteitag der
Sozialdemokraten bei weitem nicht für so wichtig, wie ihn die „Genossen" in ihrer
gewöhnlichen Selbstüberschätzung halten; aber bedeutend wichtiger als ein Besuch des
Herrn Jswolsly beim Papste, die Reise des Feldzeugmeisters David »ach Cattaro
und der Sieg eines ungarischen Athleten beim Wettlauf in Athen ist er ohne Frage;
deshalb hat die Wiener Arbeiterzeitung Recht mit ihrem Spott darüber, daß das


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[0149] Maßgebliches und Unmaßgebliches Leben wirken will und kann, sondern mit einem gewaltsamen Bruch beginnen muß. In der Erkenntnis der Jünger über den notwendigen Ausgang des Meisters, in dem leisen Übergewicht, das die unscheinbaren Vorzüge der Mutter und der Kinder über die gewaltthätige Große Adlers erlangen, gewinnt ein mächtiges Stück Leben und Wahrheit poetische Gestalt. Ihre künstlerische Reife und Reinheit bringt uns den herben und schweren Ernst dieser Dichtung nahe, an ihr messen wir zugleich die Höhe, die Wilbrandts Entwicklung erreicht hat. Möglich, daß ihn das Gesetz seiner Natur vorübergehend wieder in etwas tiefer liegende Regionen des Lebens und Bittens führt, der Episodcnroman „Die Nothenburger" scheint darauf hinzudeuten. Wir dürfen die Zuversicht hegen, daß der Dichter auch mit diesem innerlich mächtigen Roman aus der Gegenwart sein letztes Wort noch uicht gesprochen hat. Wie sagt er in dem schon angeführten „Gespräch, das fast zur Biographie wird"? „Ich habe nie eine Hand oder die Zunge gerührt, um »Erfolg« zu haben, und der Erfolg des Tages war mir nichts gegen den der Zeit. Diese Dichtungen haben oft lange in mir gelebt, ehe ich sie schrieb, lange im Pulte gelegen, ehe ich sie ans Licht gab; so mögen sie denn auch noch lange im Lichte leben, ehe sie wirken. Oder kam eine tot zur Welt, ich lebe ja noch, andre zu schaffen!" Maßgebliches und Unmaßgebliches Vom Priesteramt der Presse. Pontifex heißt Briickcnmacher; das Priester¬ mut ist ein Brückenbauer- oder Mittleramt. Ein solches wird allgemein der Presse Angewiesen. So weit gehen wir zwar nicht in der Schätzung dieser Großmacht Wie der Bischof Ketteler, der auf die Frage, was der Apostel Paulus thun würde, wenn er heute seines Amtes zu walten hätte, geantwortet haben soll: er würde eine Zeitung gründen; wir sagen vielmehr: nein, das würde er ganz gewiß nicht thun. Aber daß unter allen heute bestehenden Priesterschaften die der Presse die einflußreichste ist, das kann allerdings uicht geleugnet werden. Die Presse hat einmal die Ergebnisse der Denkarbeit der führenden Geister den Massen und dann einem jeden die Ereignisse des Tages zu übermitteln, dadurch jeden mit jedem in Ver¬ bindung zu setzen und gemeinsames, zweckentsprechendes Handeln möglich zu machen. Es ist nun eine alte Klage, daß sie ihres Amtes oft schlecht genug walte, und täglich berechtigt sie zu dieser Klage aufs neue. Wir halten den Prager Parteitag der Sozialdemokraten bei weitem nicht für so wichtig, wie ihn die „Genossen" in ihrer gewöhnlichen Selbstüberschätzung halten; aber bedeutend wichtiger als ein Besuch des Herrn Jswolsly beim Papste, die Reise des Feldzeugmeisters David »ach Cattaro und der Sieg eines ungarischen Athleten beim Wettlauf in Athen ist er ohne Frage; deshalb hat die Wiener Arbeiterzeitung Recht mit ihrem Spott darüber, daß das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/149>, abgerufen am 28.04.2024.