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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf Wilbrandt

Staat des Mahdi von erstarkten Mächten umgeben ist, zu der vor zehn Jahren,
wo Ägypten, Abessinien, die Negervölker geschlagen und zurückgedrängt, Frank¬
reich und der Kongostaat noch nicht nahe genug herangerückt waren, und der
Chcilifn unbedroht über ein kampfbegieriges, religiös verjüngtes Volk gebot.

Zum Schluß möchten wir auf die zahlreichen Beiträge zur Kenntnis des
edeln Gordon hinweisen, die das Buch bringt. stallr kannte ihn genau und
teilt neben seinen eignen Erinnerungen merkwürdige Urteile von Sudanesen
und Arabern mit. seinen Opfertod in Chartum schildert er eingehend. Er
kennt auch die Fehler, die Gordon in dieser gewagten Unternehmung gemacht
hat. Gordon ist nach unserm Gefühl außerhalb Englands nicht so gewürdigt
worden, wie er es verdient. Er gehört nicht bloß seinem Lande an. Als
einer der hervorragendsten Kolonialpolitiker aller Zeiten verdient er, daß sein
Wirken und seine Grundsätze auch bei uns studirt werden. Das Blatt, auf
dem stallr beschreibt, wie ihm das bleiche Haupt des erschlagnen Gordon
nach dem Fall Chartums in sein Zelt gebracht wird, ist das dunkelste und
ergreifendste dieses merkwürdigen Buches.




Adolf wilbrandt

Auf, ins Buch der Welt gesehn!
Licht kann nur der Tag dir geben,
Nur das Leben lehrt verstehn;
Doch Verstehen lehrt auch leben!

A. Wilbrandt

und die kühnsten Lobredner unsrer Tage wagen es nicht, ihnen
das köstlichste, was guten Kunstzeiten eigen ist: den freudigen
Anteil an dem Wachsen und Werden der Erscheinungen, das ge¬
nießende Verständnis an der Entwicklung tieferer und vielseitigerer
Naturen zuzusprechen. Schon das Wort Entwicklung schreckt die
Menschen der Gegenwart. Sie lieben und begehren es, von irgend einem Un¬
geahnten, Mächtigen, plötzlich Aufblitzenden überrascht, niedergeschmettert oder
auch nur geblendet zu werden. Gleichviel, ob sichs um ein Buch, ein Bild,
Musikwerk, um Tuberkulin oder X-Strahlen, um den Nordpol oder den
Äquator handelt, alles soll, wie das Glück, plötzlich aus der Götter Schoße
fallen, nichts soll allmählich gereift, erwartet, gehofft, vorausgesehen sein.
Die Hauptsache scheint immer, daß heute alle Welt von etwas spreche, woran
gestern noch keiner gedacht hat. Daß unter solchen Umständen niemand
schlimmer fährt als das echte, künstlerische Talent, die wahre poetische Natur


Grenzbote" II 1890 3
Adolf Wilbrandt

Staat des Mahdi von erstarkten Mächten umgeben ist, zu der vor zehn Jahren,
wo Ägypten, Abessinien, die Negervölker geschlagen und zurückgedrängt, Frank¬
reich und der Kongostaat noch nicht nahe genug herangerückt waren, und der
Chcilifn unbedroht über ein kampfbegieriges, religiös verjüngtes Volk gebot.

Zum Schluß möchten wir auf die zahlreichen Beiträge zur Kenntnis des
edeln Gordon hinweisen, die das Buch bringt. stallr kannte ihn genau und
teilt neben seinen eignen Erinnerungen merkwürdige Urteile von Sudanesen
und Arabern mit. seinen Opfertod in Chartum schildert er eingehend. Er
kennt auch die Fehler, die Gordon in dieser gewagten Unternehmung gemacht
hat. Gordon ist nach unserm Gefühl außerhalb Englands nicht so gewürdigt
worden, wie er es verdient. Er gehört nicht bloß seinem Lande an. Als
einer der hervorragendsten Kolonialpolitiker aller Zeiten verdient er, daß sein
Wirken und seine Grundsätze auch bei uns studirt werden. Das Blatt, auf
dem stallr beschreibt, wie ihm das bleiche Haupt des erschlagnen Gordon
nach dem Fall Chartums in sein Zelt gebracht wird, ist das dunkelste und
ergreifendste dieses merkwürdigen Buches.




Adolf wilbrandt

Auf, ins Buch der Welt gesehn!
Licht kann nur der Tag dir geben,
Nur das Leben lehrt verstehn;
Doch Verstehen lehrt auch leben!

A. Wilbrandt

und die kühnsten Lobredner unsrer Tage wagen es nicht, ihnen
das köstlichste, was guten Kunstzeiten eigen ist: den freudigen
Anteil an dem Wachsen und Werden der Erscheinungen, das ge¬
nießende Verständnis an der Entwicklung tieferer und vielseitigerer
Naturen zuzusprechen. Schon das Wort Entwicklung schreckt die
Menschen der Gegenwart. Sie lieben und begehren es, von irgend einem Un¬
geahnten, Mächtigen, plötzlich Aufblitzenden überrascht, niedergeschmettert oder
auch nur geblendet zu werden. Gleichviel, ob sichs um ein Buch, ein Bild,
Musikwerk, um Tuberkulin oder X-Strahlen, um den Nordpol oder den
Äquator handelt, alles soll, wie das Glück, plötzlich aus der Götter Schoße
fallen, nichts soll allmählich gereift, erwartet, gehofft, vorausgesehen sein.
Die Hauptsache scheint immer, daß heute alle Welt von etwas spreche, woran
gestern noch keiner gedacht hat. Daß unter solchen Umständen niemand
schlimmer fährt als das echte, künstlerische Talent, die wahre poetische Natur


Grenzbote» II 1890 3
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[0025] Adolf Wilbrandt Staat des Mahdi von erstarkten Mächten umgeben ist, zu der vor zehn Jahren, wo Ägypten, Abessinien, die Negervölker geschlagen und zurückgedrängt, Frank¬ reich und der Kongostaat noch nicht nahe genug herangerückt waren, und der Chcilifn unbedroht über ein kampfbegieriges, religiös verjüngtes Volk gebot. Zum Schluß möchten wir auf die zahlreichen Beiträge zur Kenntnis des edeln Gordon hinweisen, die das Buch bringt. stallr kannte ihn genau und teilt neben seinen eignen Erinnerungen merkwürdige Urteile von Sudanesen und Arabern mit. seinen Opfertod in Chartum schildert er eingehend. Er kennt auch die Fehler, die Gordon in dieser gewagten Unternehmung gemacht hat. Gordon ist nach unserm Gefühl außerhalb Englands nicht so gewürdigt worden, wie er es verdient. Er gehört nicht bloß seinem Lande an. Als einer der hervorragendsten Kolonialpolitiker aller Zeiten verdient er, daß sein Wirken und seine Grundsätze auch bei uns studirt werden. Das Blatt, auf dem stallr beschreibt, wie ihm das bleiche Haupt des erschlagnen Gordon nach dem Fall Chartums in sein Zelt gebracht wird, ist das dunkelste und ergreifendste dieses merkwürdigen Buches. Adolf wilbrandt Auf, ins Buch der Welt gesehn! Licht kann nur der Tag dir geben, Nur das Leben lehrt verstehn; Doch Verstehen lehrt auch leben! A. Wilbrandt und die kühnsten Lobredner unsrer Tage wagen es nicht, ihnen das köstlichste, was guten Kunstzeiten eigen ist: den freudigen Anteil an dem Wachsen und Werden der Erscheinungen, das ge¬ nießende Verständnis an der Entwicklung tieferer und vielseitigerer Naturen zuzusprechen. Schon das Wort Entwicklung schreckt die Menschen der Gegenwart. Sie lieben und begehren es, von irgend einem Un¬ geahnten, Mächtigen, plötzlich Aufblitzenden überrascht, niedergeschmettert oder auch nur geblendet zu werden. Gleichviel, ob sichs um ein Buch, ein Bild, Musikwerk, um Tuberkulin oder X-Strahlen, um den Nordpol oder den Äquator handelt, alles soll, wie das Glück, plötzlich aus der Götter Schoße fallen, nichts soll allmählich gereift, erwartet, gehofft, vorausgesehen sein. Die Hauptsache scheint immer, daß heute alle Welt von etwas spreche, woran gestern noch keiner gedacht hat. Daß unter solchen Umständen niemand schlimmer fährt als das echte, künstlerische Talent, die wahre poetische Natur Grenzbote» II 1890 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/25>, abgerufen am 28.04.2024.