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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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(Erfahrungen eines Patienten

alle mir eine medizinische Kasuistik in die Hände, so denke ich: wie
ganz anders würde das lauten, wenn der Arzt besorgen müßte, daß
ihm die Kranken dreinreden könnten. Allzu oft nämlich wird das
"Beobachtungsmaterial" gebogen und gewendet, hier ein Umstand
verdunkelt oder unterdrückt, dort einer unters Vergrößerungsglas
gebracht -- je nach dein Bedürfnis des Herrn Verfassers, der sein
Licht leuchten lassen möchte. Man erinnere sich nnr des Widerstreits der Meinungen
beim Aufkommen eines neuen Heilmittels.

Wie wäre es, wenn der Patient einmal den Spieß umkehrte und eine Kasuistik
seiner Ärzte zu liefern versuchte? Das Recht dazu würde man ihm um so weniger
bestreikn können, als er der Auftraggeber des Arztes ist, und jede Leistung sich
gefallen lassen muß, auf ihren Gehalt angesehen zu werden.

Allerdings ist es dem Laien uicht leicht, dem Fachmanne gerecht zu werden.
Während dieser als Herr der Lage auftritt, muß er erst den Faden suchen, der
ihm durch den Wirrwarr der Thatsachen hindurchhelfe. Ich werde zu diesem Zweck
die Maßnahmen meiner verschiednen Ärzte mit einander vergleichen, wobei ich mir
bewußt bin, daß es nicht bloß aus die Ausführung einer logischen Operation,
sondern auch auf die Geltendmnchung einer gewissen Sachkenntnis ankommt, weil
der Verlauf der Krankheit und mit ihm die Therapie schwanken kann. Ob ich, als
ehemaliger Medizinaldroguist, mir diese Vorbildung zusprechen darf, bleibe dahin¬
gestellt; nötigerweise wird mich der Fachmann eines bessern belehren.

Dank meiner stetigen Lebensweise bin ich nie in die Lage gekommen, den Arzt
wegen eines ernstlichen Leidens aufsuchen zu müssen, aber öfter habe ich mich an
den Zahnarzt wenden müssen, und Ende vorletzten Sommers wegen einer unschul¬
digen Entzündung der Augcnbiudehaut (Koujuuttivitis) auch an den Augenarzt.

Nach Angabe der mich behandelnden Ärzte trat vorvorigen Sommer ein meinem
damaligen Wohnort, einer norddeutschen Großstadt, die Koujuuktivitis epidemisch
"uf, obwohl das Wetter feuchtkühl, also der Entwicklung von Hitze und Staub uicht
günstig war. Die Krankheit erreichte bei mir in etwa acht Tagen ihren Höhepunkt.
Vorher hatte ich mehrere Tage fruchtlos mit Zinkwasser gekühlt.

Ich begab mich zu einem praktischen Arzt. Dieser wußte uicht, was er aus
dem rotgecidcwteu Auge machen sollte, und verordnete, ohne den Augenspiegel oder
die Lupe zu Rate gezogen und ohne das obere Augenlid umgeschlagen zu haben,
Atropineinträllfelungen, dreimal täglich.

Da ich recht gute Augen zu haben meine und das Jnnenauge offenbar nicht
ni Frage kam, so ging ich am folgenden Tage zu einem Spezialistin. Dieser fand
"körnige Konjnnktivitis" (ooqjrmotivitjs Kramiiosa). In Wirklichkeit war es, wie der
Verlauf der Krankheit zeigte, nur die follikuläre Konjunktivitis (eonjunetivitis lolii-
^ulosiy, die im Anfang allerdings der ungleich gefährlichern körnigen zum Verwechseln
ähnlich sehen kann. Wie ich nachträglich einem Lehrbuch der Augenheilkunde eut-




(Erfahrungen eines Patienten

alle mir eine medizinische Kasuistik in die Hände, so denke ich: wie
ganz anders würde das lauten, wenn der Arzt besorgen müßte, daß
ihm die Kranken dreinreden könnten. Allzu oft nämlich wird das
„Beobachtungsmaterial" gebogen und gewendet, hier ein Umstand
verdunkelt oder unterdrückt, dort einer unters Vergrößerungsglas
gebracht — je nach dein Bedürfnis des Herrn Verfassers, der sein
Licht leuchten lassen möchte. Man erinnere sich nnr des Widerstreits der Meinungen
beim Aufkommen eines neuen Heilmittels.

Wie wäre es, wenn der Patient einmal den Spieß umkehrte und eine Kasuistik
seiner Ärzte zu liefern versuchte? Das Recht dazu würde man ihm um so weniger
bestreikn können, als er der Auftraggeber des Arztes ist, und jede Leistung sich
gefallen lassen muß, auf ihren Gehalt angesehen zu werden.

Allerdings ist es dem Laien uicht leicht, dem Fachmanne gerecht zu werden.
Während dieser als Herr der Lage auftritt, muß er erst den Faden suchen, der
ihm durch den Wirrwarr der Thatsachen hindurchhelfe. Ich werde zu diesem Zweck
die Maßnahmen meiner verschiednen Ärzte mit einander vergleichen, wobei ich mir
bewußt bin, daß es nicht bloß aus die Ausführung einer logischen Operation,
sondern auch auf die Geltendmnchung einer gewissen Sachkenntnis ankommt, weil
der Verlauf der Krankheit und mit ihm die Therapie schwanken kann. Ob ich, als
ehemaliger Medizinaldroguist, mir diese Vorbildung zusprechen darf, bleibe dahin¬
gestellt; nötigerweise wird mich der Fachmann eines bessern belehren.

Dank meiner stetigen Lebensweise bin ich nie in die Lage gekommen, den Arzt
wegen eines ernstlichen Leidens aufsuchen zu müssen, aber öfter habe ich mich an
den Zahnarzt wenden müssen, und Ende vorletzten Sommers wegen einer unschul¬
digen Entzündung der Augcnbiudehaut (Koujuuttivitis) auch an den Augenarzt.

Nach Angabe der mich behandelnden Ärzte trat vorvorigen Sommer ein meinem
damaligen Wohnort, einer norddeutschen Großstadt, die Koujuuktivitis epidemisch
«uf, obwohl das Wetter feuchtkühl, also der Entwicklung von Hitze und Staub uicht
günstig war. Die Krankheit erreichte bei mir in etwa acht Tagen ihren Höhepunkt.
Vorher hatte ich mehrere Tage fruchtlos mit Zinkwasser gekühlt.

Ich begab mich zu einem praktischen Arzt. Dieser wußte uicht, was er aus
dem rotgecidcwteu Auge machen sollte, und verordnete, ohne den Augenspiegel oder
die Lupe zu Rate gezogen und ohne das obere Augenlid umgeschlagen zu haben,
Atropineinträllfelungen, dreimal täglich.

Da ich recht gute Augen zu haben meine und das Jnnenauge offenbar nicht
ni Frage kam, so ging ich am folgenden Tage zu einem Spezialistin. Dieser fand
»körnige Konjnnktivitis" (ooqjrmotivitjs Kramiiosa). In Wirklichkeit war es, wie der
Verlauf der Krankheit zeigte, nur die follikuläre Konjunktivitis (eonjunetivitis lolii-
^ulosiy, die im Anfang allerdings der ungleich gefährlichern körnigen zum Verwechseln
ähnlich sehen kann. Wie ich nachträglich einem Lehrbuch der Augenheilkunde eut-


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[0287] [Abbildung] (Erfahrungen eines Patienten alle mir eine medizinische Kasuistik in die Hände, so denke ich: wie ganz anders würde das lauten, wenn der Arzt besorgen müßte, daß ihm die Kranken dreinreden könnten. Allzu oft nämlich wird das „Beobachtungsmaterial" gebogen und gewendet, hier ein Umstand verdunkelt oder unterdrückt, dort einer unters Vergrößerungsglas gebracht — je nach dein Bedürfnis des Herrn Verfassers, der sein Licht leuchten lassen möchte. Man erinnere sich nnr des Widerstreits der Meinungen beim Aufkommen eines neuen Heilmittels. Wie wäre es, wenn der Patient einmal den Spieß umkehrte und eine Kasuistik seiner Ärzte zu liefern versuchte? Das Recht dazu würde man ihm um so weniger bestreikn können, als er der Auftraggeber des Arztes ist, und jede Leistung sich gefallen lassen muß, auf ihren Gehalt angesehen zu werden. Allerdings ist es dem Laien uicht leicht, dem Fachmanne gerecht zu werden. Während dieser als Herr der Lage auftritt, muß er erst den Faden suchen, der ihm durch den Wirrwarr der Thatsachen hindurchhelfe. Ich werde zu diesem Zweck die Maßnahmen meiner verschiednen Ärzte mit einander vergleichen, wobei ich mir bewußt bin, daß es nicht bloß aus die Ausführung einer logischen Operation, sondern auch auf die Geltendmnchung einer gewissen Sachkenntnis ankommt, weil der Verlauf der Krankheit und mit ihm die Therapie schwanken kann. Ob ich, als ehemaliger Medizinaldroguist, mir diese Vorbildung zusprechen darf, bleibe dahin¬ gestellt; nötigerweise wird mich der Fachmann eines bessern belehren. Dank meiner stetigen Lebensweise bin ich nie in die Lage gekommen, den Arzt wegen eines ernstlichen Leidens aufsuchen zu müssen, aber öfter habe ich mich an den Zahnarzt wenden müssen, und Ende vorletzten Sommers wegen einer unschul¬ digen Entzündung der Augcnbiudehaut (Koujuuttivitis) auch an den Augenarzt. Nach Angabe der mich behandelnden Ärzte trat vorvorigen Sommer ein meinem damaligen Wohnort, einer norddeutschen Großstadt, die Koujuuktivitis epidemisch «uf, obwohl das Wetter feuchtkühl, also der Entwicklung von Hitze und Staub uicht günstig war. Die Krankheit erreichte bei mir in etwa acht Tagen ihren Höhepunkt. Vorher hatte ich mehrere Tage fruchtlos mit Zinkwasser gekühlt. Ich begab mich zu einem praktischen Arzt. Dieser wußte uicht, was er aus dem rotgecidcwteu Auge machen sollte, und verordnete, ohne den Augenspiegel oder die Lupe zu Rate gezogen und ohne das obere Augenlid umgeschlagen zu haben, Atropineinträllfelungen, dreimal täglich. Da ich recht gute Augen zu haben meine und das Jnnenauge offenbar nicht ni Frage kam, so ging ich am folgenden Tage zu einem Spezialistin. Dieser fand »körnige Konjnnktivitis" (ooqjrmotivitjs Kramiiosa). In Wirklichkeit war es, wie der Verlauf der Krankheit zeigte, nur die follikuläre Konjunktivitis (eonjunetivitis lolii- ^ulosiy, die im Anfang allerdings der ungleich gefährlichern körnigen zum Verwechseln ähnlich sehen kann. Wie ich nachträglich einem Lehrbuch der Augenheilkunde eut-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/287>, abgerufen am 28.04.2024.