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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

denn ich liebe jedes so, als wenn es mein einziges wäre, und wenn man sie einmal
hat, will man sie auch behalten.

Dann bitte ich aber wirklich tausendmal um Verzeihung! stammelte der Storch
hoch erfreut und machte seiue tiefste, ehrerbietigste Verbeugung. Und nun empfehle
ich mich!

Damit wollte er zum Fenster hinaus, kehrte aber uoch einmal um und holte
aus seiner Fracktasche eine große Zuckertüte, die er den Kindern mitgebracht hatte.
Die legte er auf die Wiege des kleinen Mädchens, sah noch einmal mit gerührten
Blicken die Mutter um und sagte dann: So schwer es mir wird, gnädige Frau,
aber besser ists: auf Nimmerwiedersehen!

Dann schwang er sich hinaus und war bald verschwunden.

Am Abend hielt er seinen Vortrag im Antimalthusianervereiu, und da er die
ganze wissenschaftliche Storchenwelt durch seine Mitteilungen bedeutend aufklärte
und bereicherte, so erhielt er den Orden xour Is, ncmrrics und wurde zum Pro¬
fessor der Goetheforschung in Ägypten und gleichzeitig zum kaiserlich türkischen Hof¬
lieferanten ernannt.

Im nächsten Jahre aber brachte er dem jungen Ehepaar, das durch seine Zer¬
streutheit so lauge hatte warte" müsse", gleich ein Pärchen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zum Schluß der parlamentarischen Wintcrkampague.

Das Neichs-
tagsjubiläum hat den mittelparteilichen Blättern wieder einmal Anlaß gegeben, ihre
bekannten Klagelieder über den "Niedergang" des Reichstags anzustimmen, und in dem
Streben, die Lage so gefährlich wie möglich darzustellen, ist man vor der Lächerlich¬
keit nicht zurückgescheut, Liebers harmlosen Schuldentilgungsnntrag als ein mit
diabolischer Arglist zum Umsturz des Reichs ersonnenes Attentat darzustellen. Wollten
die Herren "nationalen" bei der Gelegenheit etwas nützliches thun, so hätten sie,
anstatt ihre langweiligen Jercmiaden zu wiederholen, einmal ein öffentliches Sünden¬
bekenntnis ablegen und dadurch eine Bürgschaft für ihre zukünftige Besserung ge¬
währen müssen. Sie hätten da unter anderen sagen können: Wir haben durch den
Kulturkampf das Zentrum, durch das Svzialisteugcsetz die Sozialdemokratie gro߬
gezogen und durch die Befürwortung von Freiheitsbeschränkungen aller Art uns
die Massen uoch weiter entfremdet. Die Pnrteibezeichnnngcn liberal und kon¬
servativ haben ja keinen Inhalt mehr; die Parteibildung beruht auf eiuer Reihe
von Gegensätzen, deren wichtigste außer den konfessionellen und dem zwischen
Deutschen und Polen die zwischen Absolutismus und individueller Freiheit, zwischen
ständischen oder Klassenvorrechten und Gleichberechtigung und eine Menge von
wirtschaftlichen sind. Diese Gegensätze können sich nun in mannichfaltiger Weise
kreuzen oder auch summiren. Die Mittelparteiler haben zu überlegen, welche Kom¬
bination ihnen die in den ersten Jahren des Reiches besessene Herrschaft wieder¬
bringen könnte. Daß sie in einem aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgehenden
Reichstage die Mehrheit nicht erlangen können, wenn sie auf eilten Gebieten für


Maßgebliches und Unmaßgebliches

denn ich liebe jedes so, als wenn es mein einziges wäre, und wenn man sie einmal
hat, will man sie auch behalten.

Dann bitte ich aber wirklich tausendmal um Verzeihung! stammelte der Storch
hoch erfreut und machte seiue tiefste, ehrerbietigste Verbeugung. Und nun empfehle
ich mich!

Damit wollte er zum Fenster hinaus, kehrte aber uoch einmal um und holte
aus seiner Fracktasche eine große Zuckertüte, die er den Kindern mitgebracht hatte.
Die legte er auf die Wiege des kleinen Mädchens, sah noch einmal mit gerührten
Blicken die Mutter um und sagte dann: So schwer es mir wird, gnädige Frau,
aber besser ists: auf Nimmerwiedersehen!

Dann schwang er sich hinaus und war bald verschwunden.

Am Abend hielt er seinen Vortrag im Antimalthusianervereiu, und da er die
ganze wissenschaftliche Storchenwelt durch seine Mitteilungen bedeutend aufklärte
und bereicherte, so erhielt er den Orden xour Is, ncmrrics und wurde zum Pro¬
fessor der Goetheforschung in Ägypten und gleichzeitig zum kaiserlich türkischen Hof¬
lieferanten ernannt.

Im nächsten Jahre aber brachte er dem jungen Ehepaar, das durch seine Zer¬
streutheit so lauge hatte warte» müsse», gleich ein Pärchen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zum Schluß der parlamentarischen Wintcrkampague.

Das Neichs-
tagsjubiläum hat den mittelparteilichen Blättern wieder einmal Anlaß gegeben, ihre
bekannten Klagelieder über den „Niedergang" des Reichstags anzustimmen, und in dem
Streben, die Lage so gefährlich wie möglich darzustellen, ist man vor der Lächerlich¬
keit nicht zurückgescheut, Liebers harmlosen Schuldentilgungsnntrag als ein mit
diabolischer Arglist zum Umsturz des Reichs ersonnenes Attentat darzustellen. Wollten
die Herren „nationalen" bei der Gelegenheit etwas nützliches thun, so hätten sie,
anstatt ihre langweiligen Jercmiaden zu wiederholen, einmal ein öffentliches Sünden¬
bekenntnis ablegen und dadurch eine Bürgschaft für ihre zukünftige Besserung ge¬
währen müssen. Sie hätten da unter anderen sagen können: Wir haben durch den
Kulturkampf das Zentrum, durch das Svzialisteugcsetz die Sozialdemokratie gro߬
gezogen und durch die Befürwortung von Freiheitsbeschränkungen aller Art uns
die Massen uoch weiter entfremdet. Die Pnrteibezeichnnngcn liberal und kon¬
servativ haben ja keinen Inhalt mehr; die Parteibildung beruht auf eiuer Reihe
von Gegensätzen, deren wichtigste außer den konfessionellen und dem zwischen
Deutschen und Polen die zwischen Absolutismus und individueller Freiheit, zwischen
ständischen oder Klassenvorrechten und Gleichberechtigung und eine Menge von
wirtschaftlichen sind. Diese Gegensätze können sich nun in mannichfaltiger Weise
kreuzen oder auch summiren. Die Mittelparteiler haben zu überlegen, welche Kom¬
bination ihnen die in den ersten Jahren des Reiches besessene Herrschaft wieder¬
bringen könnte. Daß sie in einem aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgehenden
Reichstage die Mehrheit nicht erlangen können, wenn sie auf eilten Gebieten für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/48>, abgerufen am 27.04.2024.