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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst
v Adolf Bartels on

le Behauptung, daß die Kultur die Dichtkunst nach und nach
töte, ist schon oft ausgesprochen worden. So findet sich z. B.
in dem Essay Macaulays über Milton eine längere Ausführung,
die mit Gründen mancherlei Art für diese Behauptung, wenn
auch nicht in ihrer schroffsten Form, eintritt. Ich will sie im
Auszuge hersetzen: "Wir glauben, schreibt der Engländer, daß mit dem Fort¬
schritt der Kultur fast unvermeidlich ein Rückschritt der Poesie verbunden ist.
Obgleich wir für jene großen Schöpfungen der Phantasie, die in dunkeln Zeit¬
altern erschienen sind, glühende Bewunderung hegen, so ist es für uns doch
kein Grund, unsre Vewundrung zu steigern, weil sie in dunkeln Zeiten ent¬
standen sind. Wir glauben im Gegenteil, daß es die wunderbarste und glän¬
zendste Offenbarung eines echten Genies ist, wenn eine Dichtung in einem ge¬
bildeten Zeitalter entstanden ist." Gewöhnliche Beobachter schließen von dem
Fortschritt der Erfahrungswissenschaften auf deu der nachahmenden Künste,
aber das ist falsch; die fortschreitende Verfeinerung der Zeiten versorgt die
Künste selten mit bessern Stoffen für die Nachbildung, und wenn sie auch die
Instrumente der eigentlich bildenden Künste verbessert, die Sprache, das In¬
strument des Dichters, ist in ihrem ursprünglichsten Zustande am besten für
seine Zwecke geeignet. "Bei Völkern wie bei Einzelnen findet zuerst die sinn¬
liche Wahrnehmung der Dinge statt, und dann erst folgt das zergliedernde
Unterscheiden durch den Gedanken. Von einzelnen Bildern geht der Fortschritt
zu allgemeinen Begriffen über. Daher ist das Wörterbuch einer hochgebildeten
Gesellschaft philosophisch, das eines halbgebildeter Volkes poetisch. Diese in
der Sprache der Menschen sich vollziehende Veränderung ist teils die Ursache
und teils die Wirkung einer entsprechenden Veränderung in dem Wesen der
menschlichen Geistesthütigkeit, eine Veränderung, durch die die Wissenschaft ge¬
winnt und die Poesie verliert. Zur Förderung der Kenntnisse ist die Verall¬
gemeinerung durch den Begriff eine notwendige Bedingung, aber für die
Schöpfungen der Phantasie ist das Individualisiren des Einzelnen ebenso un¬
erläßlich. In dem Verhältnis, wie die Menschen an Wissen und Erkennen




Die sterbende Dichtkunst
v Adolf Bartels on

le Behauptung, daß die Kultur die Dichtkunst nach und nach
töte, ist schon oft ausgesprochen worden. So findet sich z. B.
in dem Essay Macaulays über Milton eine längere Ausführung,
die mit Gründen mancherlei Art für diese Behauptung, wenn
auch nicht in ihrer schroffsten Form, eintritt. Ich will sie im
Auszuge hersetzen: „Wir glauben, schreibt der Engländer, daß mit dem Fort¬
schritt der Kultur fast unvermeidlich ein Rückschritt der Poesie verbunden ist.
Obgleich wir für jene großen Schöpfungen der Phantasie, die in dunkeln Zeit¬
altern erschienen sind, glühende Bewunderung hegen, so ist es für uns doch
kein Grund, unsre Vewundrung zu steigern, weil sie in dunkeln Zeiten ent¬
standen sind. Wir glauben im Gegenteil, daß es die wunderbarste und glän¬
zendste Offenbarung eines echten Genies ist, wenn eine Dichtung in einem ge¬
bildeten Zeitalter entstanden ist." Gewöhnliche Beobachter schließen von dem
Fortschritt der Erfahrungswissenschaften auf deu der nachahmenden Künste,
aber das ist falsch; die fortschreitende Verfeinerung der Zeiten versorgt die
Künste selten mit bessern Stoffen für die Nachbildung, und wenn sie auch die
Instrumente der eigentlich bildenden Künste verbessert, die Sprache, das In¬
strument des Dichters, ist in ihrem ursprünglichsten Zustande am besten für
seine Zwecke geeignet. „Bei Völkern wie bei Einzelnen findet zuerst die sinn¬
liche Wahrnehmung der Dinge statt, und dann erst folgt das zergliedernde
Unterscheiden durch den Gedanken. Von einzelnen Bildern geht der Fortschritt
zu allgemeinen Begriffen über. Daher ist das Wörterbuch einer hochgebildeten
Gesellschaft philosophisch, das eines halbgebildeter Volkes poetisch. Diese in
der Sprache der Menschen sich vollziehende Veränderung ist teils die Ursache
und teils die Wirkung einer entsprechenden Veränderung in dem Wesen der
menschlichen Geistesthütigkeit, eine Veränderung, durch die die Wissenschaft ge¬
winnt und die Poesie verliert. Zur Förderung der Kenntnisse ist die Verall¬
gemeinerung durch den Begriff eine notwendige Bedingung, aber für die
Schöpfungen der Phantasie ist das Individualisiren des Einzelnen ebenso un¬
erläßlich. In dem Verhältnis, wie die Menschen an Wissen und Erkennen


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[0179] [Abbildung] Die sterbende Dichtkunst v Adolf Bartels on le Behauptung, daß die Kultur die Dichtkunst nach und nach töte, ist schon oft ausgesprochen worden. So findet sich z. B. in dem Essay Macaulays über Milton eine längere Ausführung, die mit Gründen mancherlei Art für diese Behauptung, wenn auch nicht in ihrer schroffsten Form, eintritt. Ich will sie im Auszuge hersetzen: „Wir glauben, schreibt der Engländer, daß mit dem Fort¬ schritt der Kultur fast unvermeidlich ein Rückschritt der Poesie verbunden ist. Obgleich wir für jene großen Schöpfungen der Phantasie, die in dunkeln Zeit¬ altern erschienen sind, glühende Bewunderung hegen, so ist es für uns doch kein Grund, unsre Vewundrung zu steigern, weil sie in dunkeln Zeiten ent¬ standen sind. Wir glauben im Gegenteil, daß es die wunderbarste und glän¬ zendste Offenbarung eines echten Genies ist, wenn eine Dichtung in einem ge¬ bildeten Zeitalter entstanden ist." Gewöhnliche Beobachter schließen von dem Fortschritt der Erfahrungswissenschaften auf deu der nachahmenden Künste, aber das ist falsch; die fortschreitende Verfeinerung der Zeiten versorgt die Künste selten mit bessern Stoffen für die Nachbildung, und wenn sie auch die Instrumente der eigentlich bildenden Künste verbessert, die Sprache, das In¬ strument des Dichters, ist in ihrem ursprünglichsten Zustande am besten für seine Zwecke geeignet. „Bei Völkern wie bei Einzelnen findet zuerst die sinn¬ liche Wahrnehmung der Dinge statt, und dann erst folgt das zergliedernde Unterscheiden durch den Gedanken. Von einzelnen Bildern geht der Fortschritt zu allgemeinen Begriffen über. Daher ist das Wörterbuch einer hochgebildeten Gesellschaft philosophisch, das eines halbgebildeter Volkes poetisch. Diese in der Sprache der Menschen sich vollziehende Veränderung ist teils die Ursache und teils die Wirkung einer entsprechenden Veränderung in dem Wesen der menschlichen Geistesthütigkeit, eine Veränderung, durch die die Wissenschaft ge¬ winnt und die Poesie verliert. Zur Förderung der Kenntnisse ist die Verall¬ gemeinerung durch den Begriff eine notwendige Bedingung, aber für die Schöpfungen der Phantasie ist das Individualisiren des Einzelnen ebenso un¬ erläßlich. In dem Verhältnis, wie die Menschen an Wissen und Erkennen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/179>, abgerufen am 01.05.2024.