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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

zunehmen, lenken sie ihre Aufmerksamkeit von dem Individuellen im Einzelnen
ab, auf das Allgemeine der Gattung hin. Sie schaffen dann bessere Theorien
und schlechtere Gedichte. Statt der Anschauung im Bilde geben sie uns un¬
bestimmte Redensarten, statt menschlicher Gestalten personifizirte Eigenschaften.
In dem Zergliedern des menschlichen Wesens mögen sie geschickter sein als
ihre Vorgänger, aber die Analyse gehört nicht zum Beruf des Dichters. Im
Bilde zusammenzufassen ist seine Aufgabe, aber nicht, in Bestandteile zu zer¬
legen. Vielleicht kann niemand ein Dichter sein oder auch nur zum Genuß
dichterischer Werke befähigt sein, ohne in seinem Gemüte eine gewisse krankhafte
Richtung zu haben, wenn überhaupt krankhaft genannt werden darf, was so
viel Freude bereitet. Unter Poesie verstehen wir nicht alles, was in Versen
geschrieben ist, nicht einmal alles Gute, was darin geschrieben worden ist.
Unter Poesie verstehen wir die Kunst, die Sprache in einer Art zu gebrauchen,
daß dadurch eine Täuschung auf die Einbildungskraft hervorgebracht wird, die
Kunst also, mit Worten zu erreichen, was der Maler durch Farben erreicht.
So wurde sie von dem größten Dichter geschildert:


Wie Phantasie die Formen fremder Dinge
Uns vor die Augen stellt, so macht der Dichter
Sie zu Gestalten und verleiht dem Nichts
Im Raume einen Platz und einen Namen,

Das sind die Früchte des schönen Wahnsinns, den man dem Dichter zuschreibt --
gewiß ein schöner Wahnsinn, aber immerhin ein Wahnsinn. Wahrheit gehört
allerdings zum Wesen der Poesie, aber die Wahrheit glühender Erregung.
Die Folgerungen sind richtig, aber die Voraussetzungen sind es nicht; sie er¬
fordern einen Grund von Leichtgläubigkeit, der von partieller und zeitweiliger
Geistesstörung nicht weit entfernt ist. Daher sind es die Kinder, die unter
allen Menschen die beweglichste Einbildungskraft haben. Kein Erwachsener,
wie lebendig er auch empfinden mag, wird je durch Hamlet oder Lear so er¬
schüttert werden, wie sich ein kleines Mädchen durch die Geschichte von Rot¬
käppchen rühren läßt. In einem rohen Zustande der Gesellschaft sind die
Menschen wie die Kinder, mit einer größern Abwechslung von Ideen. Wir
dürfen deshalb erwarten, in einem solchen Zustande der Gesellschaft den
poetischen Sinn in seiner höchsten Entwicklung anzutreffen. Verstand, Wissen
und Philosophie, richtige Gliederung der Begriffe und feines Unterscheidungs-
vermögen, Geist und Gewandtheit des Ausdrucks. Verse, sogar gute Verse,
das alles wird in einem Zeitalter der Aufklärung in reichster Fülle vorhanden
sein, bei alledem aber wenig Poesie. Die Menschen werden urteilen und ver¬
gleichen wollen, aber ohne produktiv zu sein. Sie werden sich über die alten
Dichter unterhalten, sie erklären und bis zu einem gewissen Grade genießen.
Aber sie werden kaum imstande sein, die Wirkung zu begreifen, die die Poesie


Die sterbende Dichtkunst

zunehmen, lenken sie ihre Aufmerksamkeit von dem Individuellen im Einzelnen
ab, auf das Allgemeine der Gattung hin. Sie schaffen dann bessere Theorien
und schlechtere Gedichte. Statt der Anschauung im Bilde geben sie uns un¬
bestimmte Redensarten, statt menschlicher Gestalten personifizirte Eigenschaften.
In dem Zergliedern des menschlichen Wesens mögen sie geschickter sein als
ihre Vorgänger, aber die Analyse gehört nicht zum Beruf des Dichters. Im
Bilde zusammenzufassen ist seine Aufgabe, aber nicht, in Bestandteile zu zer¬
legen. Vielleicht kann niemand ein Dichter sein oder auch nur zum Genuß
dichterischer Werke befähigt sein, ohne in seinem Gemüte eine gewisse krankhafte
Richtung zu haben, wenn überhaupt krankhaft genannt werden darf, was so
viel Freude bereitet. Unter Poesie verstehen wir nicht alles, was in Versen
geschrieben ist, nicht einmal alles Gute, was darin geschrieben worden ist.
Unter Poesie verstehen wir die Kunst, die Sprache in einer Art zu gebrauchen,
daß dadurch eine Täuschung auf die Einbildungskraft hervorgebracht wird, die
Kunst also, mit Worten zu erreichen, was der Maler durch Farben erreicht.
So wurde sie von dem größten Dichter geschildert:


Wie Phantasie die Formen fremder Dinge
Uns vor die Augen stellt, so macht der Dichter
Sie zu Gestalten und verleiht dem Nichts
Im Raume einen Platz und einen Namen,

Das sind die Früchte des schönen Wahnsinns, den man dem Dichter zuschreibt —
gewiß ein schöner Wahnsinn, aber immerhin ein Wahnsinn. Wahrheit gehört
allerdings zum Wesen der Poesie, aber die Wahrheit glühender Erregung.
Die Folgerungen sind richtig, aber die Voraussetzungen sind es nicht; sie er¬
fordern einen Grund von Leichtgläubigkeit, der von partieller und zeitweiliger
Geistesstörung nicht weit entfernt ist. Daher sind es die Kinder, die unter
allen Menschen die beweglichste Einbildungskraft haben. Kein Erwachsener,
wie lebendig er auch empfinden mag, wird je durch Hamlet oder Lear so er¬
schüttert werden, wie sich ein kleines Mädchen durch die Geschichte von Rot¬
käppchen rühren läßt. In einem rohen Zustande der Gesellschaft sind die
Menschen wie die Kinder, mit einer größern Abwechslung von Ideen. Wir
dürfen deshalb erwarten, in einem solchen Zustande der Gesellschaft den
poetischen Sinn in seiner höchsten Entwicklung anzutreffen. Verstand, Wissen
und Philosophie, richtige Gliederung der Begriffe und feines Unterscheidungs-
vermögen, Geist und Gewandtheit des Ausdrucks. Verse, sogar gute Verse,
das alles wird in einem Zeitalter der Aufklärung in reichster Fülle vorhanden
sein, bei alledem aber wenig Poesie. Die Menschen werden urteilen und ver¬
gleichen wollen, aber ohne produktiv zu sein. Sie werden sich über die alten
Dichter unterhalten, sie erklären und bis zu einem gewissen Grade genießen.
Aber sie werden kaum imstande sein, die Wirkung zu begreifen, die die Poesie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/180>, abgerufen am 21.05.2024.