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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

le zünftigen Sozialpolitiker beiderlei Geschlechts bitte ich in auf¬
richtigster Bescheidenheit um Verzeihung, wenn ich mich mit
einigen ganz und gar nicht system- und Schulgerechtem Gedanken
an die Öffentlichkeit wage. Die Gedanken haben sich mir auf¬
gedrängt im Laufe eines Menschenlebens, in Freud und Leid, in
guten und in bösen Jahren, und sie sind haften geblieben trotz allem Wechsel.
Vielleicht giebt es unter den heutigen Lesern der Grenzboten doch immer noch
einige, denen das, was ich sagen will, nicht ganz unwillkommen ist, mag es
sich auch der alten wie der neuen Schule gegenüber noch so ketzerisch aus¬
nehmen.

Die wissenschaftlichen Vertreter der modernen Nationalökonomie und
Sozialpolitik weisen mit Recht gern darauf hin, daß ein großer Teil der vielen
sozialen Reformfragen und Reformbestrebungen der Gegenwart seinen Ursprung
in dem Wunsche habe, den höhern Anforderungen der "Ethik" an das Wirt¬
schaftsleben und an die sozialen Zustände zu entsprechen. Die politische
Ökonomie, so sagt man (Schönberg), könne heute mit Recht eine "ethische"
Wissenschaft genannt werden, während sie diesen Charakter nicht gehabt habe,
"solange die in ihr herrschende abstrakte und individualistische Richtung die
strenge Scheidung der wirtschaftlichen und der sittlichen Welt vornahm, in
jener nur den Egoismus als die maßgebende Triebfeder ansah, das Güterleben
nur nach seiner materiellen Seite betrachtete und als den normalen und besten
Zustand der Volkswirtschaft denjenigen zu deduziren suchte, der aus dem möglichst
uneingeschränkten egoistischen Streben nach Befriedigung der individuellen Inter¬
essen hervorgehe."

Dieser Bruch mit der egoistisch-materialistischen Lehre der Manchester¬
schule -- der alten Schule, wie ich sie hier nennen will -- hatte sich in der
deutschen Wissenschaft schon in den sechziger Jahren vollzogen, und seit Aus¬
gang der siebziger Jahre ist er auch in der Politik insofern ausgesprochen vor¬
handen, als der Staat seitdem als berechtigt anerkannt wird, und von dieser
Berechtigung auch Gebrauch macht, dem selbstsüchtige" Streben nach Befriedigung
der eignen Interessen zu Gunsten sittlicher Forderungen äußerliche Schranken
zu ziehen. Man hat der im Staate organisirten Gesellschaft den Charakter




Die Pflicht der Einzelnen

le zünftigen Sozialpolitiker beiderlei Geschlechts bitte ich in auf¬
richtigster Bescheidenheit um Verzeihung, wenn ich mich mit
einigen ganz und gar nicht system- und Schulgerechtem Gedanken
an die Öffentlichkeit wage. Die Gedanken haben sich mir auf¬
gedrängt im Laufe eines Menschenlebens, in Freud und Leid, in
guten und in bösen Jahren, und sie sind haften geblieben trotz allem Wechsel.
Vielleicht giebt es unter den heutigen Lesern der Grenzboten doch immer noch
einige, denen das, was ich sagen will, nicht ganz unwillkommen ist, mag es
sich auch der alten wie der neuen Schule gegenüber noch so ketzerisch aus¬
nehmen.

Die wissenschaftlichen Vertreter der modernen Nationalökonomie und
Sozialpolitik weisen mit Recht gern darauf hin, daß ein großer Teil der vielen
sozialen Reformfragen und Reformbestrebungen der Gegenwart seinen Ursprung
in dem Wunsche habe, den höhern Anforderungen der „Ethik" an das Wirt¬
schaftsleben und an die sozialen Zustände zu entsprechen. Die politische
Ökonomie, so sagt man (Schönberg), könne heute mit Recht eine „ethische"
Wissenschaft genannt werden, während sie diesen Charakter nicht gehabt habe,
„solange die in ihr herrschende abstrakte und individualistische Richtung die
strenge Scheidung der wirtschaftlichen und der sittlichen Welt vornahm, in
jener nur den Egoismus als die maßgebende Triebfeder ansah, das Güterleben
nur nach seiner materiellen Seite betrachtete und als den normalen und besten
Zustand der Volkswirtschaft denjenigen zu deduziren suchte, der aus dem möglichst
uneingeschränkten egoistischen Streben nach Befriedigung der individuellen Inter¬
essen hervorgehe."

Dieser Bruch mit der egoistisch-materialistischen Lehre der Manchester¬
schule — der alten Schule, wie ich sie hier nennen will — hatte sich in der
deutschen Wissenschaft schon in den sechziger Jahren vollzogen, und seit Aus¬
gang der siebziger Jahre ist er auch in der Politik insofern ausgesprochen vor¬
handen, als der Staat seitdem als berechtigt anerkannt wird, und von dieser
Berechtigung auch Gebrauch macht, dem selbstsüchtige» Streben nach Befriedigung
der eignen Interessen zu Gunsten sittlicher Forderungen äußerliche Schranken
zu ziehen. Man hat der im Staate organisirten Gesellschaft den Charakter


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[0191] [Abbildung] Die Pflicht der Einzelnen le zünftigen Sozialpolitiker beiderlei Geschlechts bitte ich in auf¬ richtigster Bescheidenheit um Verzeihung, wenn ich mich mit einigen ganz und gar nicht system- und Schulgerechtem Gedanken an die Öffentlichkeit wage. Die Gedanken haben sich mir auf¬ gedrängt im Laufe eines Menschenlebens, in Freud und Leid, in guten und in bösen Jahren, und sie sind haften geblieben trotz allem Wechsel. Vielleicht giebt es unter den heutigen Lesern der Grenzboten doch immer noch einige, denen das, was ich sagen will, nicht ganz unwillkommen ist, mag es sich auch der alten wie der neuen Schule gegenüber noch so ketzerisch aus¬ nehmen. Die wissenschaftlichen Vertreter der modernen Nationalökonomie und Sozialpolitik weisen mit Recht gern darauf hin, daß ein großer Teil der vielen sozialen Reformfragen und Reformbestrebungen der Gegenwart seinen Ursprung in dem Wunsche habe, den höhern Anforderungen der „Ethik" an das Wirt¬ schaftsleben und an die sozialen Zustände zu entsprechen. Die politische Ökonomie, so sagt man (Schönberg), könne heute mit Recht eine „ethische" Wissenschaft genannt werden, während sie diesen Charakter nicht gehabt habe, „solange die in ihr herrschende abstrakte und individualistische Richtung die strenge Scheidung der wirtschaftlichen und der sittlichen Welt vornahm, in jener nur den Egoismus als die maßgebende Triebfeder ansah, das Güterleben nur nach seiner materiellen Seite betrachtete und als den normalen und besten Zustand der Volkswirtschaft denjenigen zu deduziren suchte, der aus dem möglichst uneingeschränkten egoistischen Streben nach Befriedigung der individuellen Inter¬ essen hervorgehe." Dieser Bruch mit der egoistisch-materialistischen Lehre der Manchester¬ schule — der alten Schule, wie ich sie hier nennen will — hatte sich in der deutschen Wissenschaft schon in den sechziger Jahren vollzogen, und seit Aus¬ gang der siebziger Jahre ist er auch in der Politik insofern ausgesprochen vor¬ handen, als der Staat seitdem als berechtigt anerkannt wird, und von dieser Berechtigung auch Gebrauch macht, dem selbstsüchtige» Streben nach Befriedigung der eignen Interessen zu Gunsten sittlicher Forderungen äußerliche Schranken zu ziehen. Man hat der im Staate organisirten Gesellschaft den Charakter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/191>, abgerufen am 01.05.2024.