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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

der Trägerin sittlicher Pflichten wiedergegeben, den ihr die alte Schule fast
ganz geraubt hatte.

Aber über diesen Erfolg scheint man mir doch eins, und zwar das aller-
wichtigste, gar zu sehr zu vergessen. Man spricht zwar jetzt von den Pflichten
der Gesellschaft sehr viel, aber von der Pflicht des Einzelnen gegen den
Einzelnen spricht man sast gar nicht. Das halte ich für einen schweren Fehler
in der sozialpolitischen Rechnung von heute.

Die alte Schule hat es nämlich keineswegs dabei bewenden lassen, den
Staat von jeder sittlichen Pflicht zu entbinden und ihn zum Niederreißen
so mancher Schranken zu veranlassen, die dem Streben nach Befriedigung
der selbstsüchtigen Interessen der Einzelnen entgegenzustehen schienen, sie hat
vor allem auch den Einzelnen die Überzeugung beigebracht, daß sie im wirt¬
schaftlichen Leben nur die Selbstsucht als die maßgebende Triebfeder an¬
zusehen hätten. Statt nun hierin Wandel zu schaffen, erkennt man auch in
den von der neuen Schule beherrschten wissenschaftlichen und politischen Kreisen
immer noch den für die Gesellschaft überwundnen egoistisch-materialistischen
Standpunkt der Manchesterschule sür den Einzelnen gegenüber dem Einzelnen
als den einzig natürlichen und möglichen und deshalb auch berechtigten an.
Statt die Grundlagen der sozialen Ethik, die Nächstenliebe, Gerechtigkeit und
Wahrheit, als kategorischen Imperativ für das Verhalten des Einzelnen gegen
den Einzelnen wieder zu Ehren zu bringen, macht man durch die ausschließliche
Betonung der Pflichten der Gesellschaft das Gegenteil zum Gesetz, ja selbst
unter der Herrschaft der alten Schule ist mir eine so rücksichtslose Mi߬
achtung der Verantwortlichkeit des Einzelnen im sozialen Leben, wie ich sie
jetzt bei Sozialpolitikern der neuen Schule in Dentschland täglich höre und
lese, kaum jemals vorgekommen. Daß der Einzelne fast alles thun muß,
das Ganze nur sehr wenig thun kann, daß die "Verhältnisse" nicht den
Menschen die sittliche Verantwortung abnehmen, sondern daß der einzelnen
Menschen Thun und Lassen die Verhältnisse hauptsächlich bestimmt, diese
Wahrheit wird, so scheint mir, immer noch mit sträflicher Einseitigkeit
außer Acht gelassen. Die sittliche Grundlage der Gesellschastswohlfahrt ist
und bleibt doch nun einmal ihrem Wesen nach individualistisch und läßt sich
ohne Zerstörung ihres Wesens weder zu einer staatlichen, noch zu einer
genossenschaftlichen Einrichtung machen. In den Herzen des Volks selbst und
damit in der Handlungsweise des Einzelnen gegenüber dem Einzelnen gilt
es vor allem wieder gegen die Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und Verlogen¬
heit anzukämpfen. Das scheint mir immermehr die wichtigste Aufgabe der
Gegenwart zu werden, ohne deren Lösung die Erreichung der gesellschaft¬
lichen Wohlfahrt ganz ausgeschlossen bleibt. Weder der Staatssozialismus
noch die Sozialdemokratie hat bis jetzt praktisch etwas für diese Aufgabe
geleistet. Im Gegenteil, der mit allen Mitteln der Agitation um die Klinke


Die Pflicht der Einzelnen

der Trägerin sittlicher Pflichten wiedergegeben, den ihr die alte Schule fast
ganz geraubt hatte.

Aber über diesen Erfolg scheint man mir doch eins, und zwar das aller-
wichtigste, gar zu sehr zu vergessen. Man spricht zwar jetzt von den Pflichten
der Gesellschaft sehr viel, aber von der Pflicht des Einzelnen gegen den
Einzelnen spricht man sast gar nicht. Das halte ich für einen schweren Fehler
in der sozialpolitischen Rechnung von heute.

Die alte Schule hat es nämlich keineswegs dabei bewenden lassen, den
Staat von jeder sittlichen Pflicht zu entbinden und ihn zum Niederreißen
so mancher Schranken zu veranlassen, die dem Streben nach Befriedigung
der selbstsüchtigen Interessen der Einzelnen entgegenzustehen schienen, sie hat
vor allem auch den Einzelnen die Überzeugung beigebracht, daß sie im wirt¬
schaftlichen Leben nur die Selbstsucht als die maßgebende Triebfeder an¬
zusehen hätten. Statt nun hierin Wandel zu schaffen, erkennt man auch in
den von der neuen Schule beherrschten wissenschaftlichen und politischen Kreisen
immer noch den für die Gesellschaft überwundnen egoistisch-materialistischen
Standpunkt der Manchesterschule sür den Einzelnen gegenüber dem Einzelnen
als den einzig natürlichen und möglichen und deshalb auch berechtigten an.
Statt die Grundlagen der sozialen Ethik, die Nächstenliebe, Gerechtigkeit und
Wahrheit, als kategorischen Imperativ für das Verhalten des Einzelnen gegen
den Einzelnen wieder zu Ehren zu bringen, macht man durch die ausschließliche
Betonung der Pflichten der Gesellschaft das Gegenteil zum Gesetz, ja selbst
unter der Herrschaft der alten Schule ist mir eine so rücksichtslose Mi߬
achtung der Verantwortlichkeit des Einzelnen im sozialen Leben, wie ich sie
jetzt bei Sozialpolitikern der neuen Schule in Dentschland täglich höre und
lese, kaum jemals vorgekommen. Daß der Einzelne fast alles thun muß,
das Ganze nur sehr wenig thun kann, daß die „Verhältnisse" nicht den
Menschen die sittliche Verantwortung abnehmen, sondern daß der einzelnen
Menschen Thun und Lassen die Verhältnisse hauptsächlich bestimmt, diese
Wahrheit wird, so scheint mir, immer noch mit sträflicher Einseitigkeit
außer Acht gelassen. Die sittliche Grundlage der Gesellschastswohlfahrt ist
und bleibt doch nun einmal ihrem Wesen nach individualistisch und läßt sich
ohne Zerstörung ihres Wesens weder zu einer staatlichen, noch zu einer
genossenschaftlichen Einrichtung machen. In den Herzen des Volks selbst und
damit in der Handlungsweise des Einzelnen gegenüber dem Einzelnen gilt
es vor allem wieder gegen die Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und Verlogen¬
heit anzukämpfen. Das scheint mir immermehr die wichtigste Aufgabe der
Gegenwart zu werden, ohne deren Lösung die Erreichung der gesellschaft¬
lichen Wohlfahrt ganz ausgeschlossen bleibt. Weder der Staatssozialismus
noch die Sozialdemokratie hat bis jetzt praktisch etwas für diese Aufgabe
geleistet. Im Gegenteil, der mit allen Mitteln der Agitation um die Klinke


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[0192] Die Pflicht der Einzelnen der Trägerin sittlicher Pflichten wiedergegeben, den ihr die alte Schule fast ganz geraubt hatte. Aber über diesen Erfolg scheint man mir doch eins, und zwar das aller- wichtigste, gar zu sehr zu vergessen. Man spricht zwar jetzt von den Pflichten der Gesellschaft sehr viel, aber von der Pflicht des Einzelnen gegen den Einzelnen spricht man sast gar nicht. Das halte ich für einen schweren Fehler in der sozialpolitischen Rechnung von heute. Die alte Schule hat es nämlich keineswegs dabei bewenden lassen, den Staat von jeder sittlichen Pflicht zu entbinden und ihn zum Niederreißen so mancher Schranken zu veranlassen, die dem Streben nach Befriedigung der selbstsüchtigen Interessen der Einzelnen entgegenzustehen schienen, sie hat vor allem auch den Einzelnen die Überzeugung beigebracht, daß sie im wirt¬ schaftlichen Leben nur die Selbstsucht als die maßgebende Triebfeder an¬ zusehen hätten. Statt nun hierin Wandel zu schaffen, erkennt man auch in den von der neuen Schule beherrschten wissenschaftlichen und politischen Kreisen immer noch den für die Gesellschaft überwundnen egoistisch-materialistischen Standpunkt der Manchesterschule sür den Einzelnen gegenüber dem Einzelnen als den einzig natürlichen und möglichen und deshalb auch berechtigten an. Statt die Grundlagen der sozialen Ethik, die Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Wahrheit, als kategorischen Imperativ für das Verhalten des Einzelnen gegen den Einzelnen wieder zu Ehren zu bringen, macht man durch die ausschließliche Betonung der Pflichten der Gesellschaft das Gegenteil zum Gesetz, ja selbst unter der Herrschaft der alten Schule ist mir eine so rücksichtslose Mi߬ achtung der Verantwortlichkeit des Einzelnen im sozialen Leben, wie ich sie jetzt bei Sozialpolitikern der neuen Schule in Dentschland täglich höre und lese, kaum jemals vorgekommen. Daß der Einzelne fast alles thun muß, das Ganze nur sehr wenig thun kann, daß die „Verhältnisse" nicht den Menschen die sittliche Verantwortung abnehmen, sondern daß der einzelnen Menschen Thun und Lassen die Verhältnisse hauptsächlich bestimmt, diese Wahrheit wird, so scheint mir, immer noch mit sträflicher Einseitigkeit außer Acht gelassen. Die sittliche Grundlage der Gesellschastswohlfahrt ist und bleibt doch nun einmal ihrem Wesen nach individualistisch und läßt sich ohne Zerstörung ihres Wesens weder zu einer staatlichen, noch zu einer genossenschaftlichen Einrichtung machen. In den Herzen des Volks selbst und damit in der Handlungsweise des Einzelnen gegenüber dem Einzelnen gilt es vor allem wieder gegen die Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und Verlogen¬ heit anzukämpfen. Das scheint mir immermehr die wichtigste Aufgabe der Gegenwart zu werden, ohne deren Lösung die Erreichung der gesellschaft¬ lichen Wohlfahrt ganz ausgeschlossen bleibt. Weder der Staatssozialismus noch die Sozialdemokratie hat bis jetzt praktisch etwas für diese Aufgabe geleistet. Im Gegenteil, der mit allen Mitteln der Agitation um die Klinke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/192>, abgerufen am 16.05.2024.