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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf

unfrei, durch seine und unsre Schuld. Der gute Wille wird mehr zum Vor¬
schein kommen, wenn die Arbeiten in der Regel, der kleinen Mitgliederzahl
entsprechend, im Plenum erledigt werden, und die Sitzungen den Charakter
von Haupt- und Staatsaktionen verlieren. Ich muß diese Bezeichnung wieder¬
holen, obgleich das oratorische Ergebnis nicht glänzend ist.




Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf

er Gedanke, daß die Höhe der Löhne im wesentlichen von der
Organisation der Arbeiter abhänge, und daß der besondre Fall
dieser Organisation, der Aufstand, die wuchtigste Waffe im Lohn¬
kampfe sei, ist noch sehr jung. John Stuart Mill in seinen
letzten Lebensjahren ist sein Vater. Wer an die Siegeskraft der
Wahrheit glaubt, der kann wohl ans dem Siegeslauf, den dieser Gedanke
durch das gesamte soziale Denken der Gegenwart angetreten hat, auf feine
Wahrheit schließen. Millionen und aber Millionen gebildeter und ungebildeter
Menschen glauben an ihn, und fiir zahlreiche "führende" Volkswirtschafter
gehört er zu den Grundthatsachen der wirtschaftlichen Weltanschauung der
Neuzeit. Der Aufstand ist "das" Ereignis in der Entwicklung der Beziehungen
von Arbeitgebern und Arbeitern, und häufig genug ein Ereignis, das,
wie der Hamburger Streik, alle Gebildeten interessirt. Wer aber andrerseits
an die Siegeskraft einer kräftigen Agitation glaubt und ihr namentlich dann
große Erfolge verheißt, wenn der Boden für die verfochtnen Gedanken gut
bereitet ist, der darf sich vielleicht dieser ganzen wirtschaftlichen Vorstellungs-
gruppe etwas kühler gegenüberstellen und sich einmal fragen, ob sie sich denn
mit den sonst für ausgemacht geltenden Grundvoraussetzungen wirtschaftlichen
Denkens in Einklang bringen lassen.

Als in der Neichstagssitzung vom 12. Dezember der Staatssekretär von
Bötticher die Bemerkung fallen ließ, daß die Streiks gegen die Interessen der
Arbeiter seien, gab es "Lärm bei den Sozialdemokraten," und doch bedarf es
nur geringer wirtschaftlicher Bildung, um einzusehen, daß der Streik mindestens
eine zweischneidige Waffe ist, die, selbst wenn die Aufständischen schließlich
mit ihren Forderungen durchdringen, ihnen selbst auf die Dauer und der
Arbeiterschaft im allgemeinen für längere Zeit mehr Schaden zufügt als
Nutzen bringt.


Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf

unfrei, durch seine und unsre Schuld. Der gute Wille wird mehr zum Vor¬
schein kommen, wenn die Arbeiten in der Regel, der kleinen Mitgliederzahl
entsprechend, im Plenum erledigt werden, und die Sitzungen den Charakter
von Haupt- und Staatsaktionen verlieren. Ich muß diese Bezeichnung wieder¬
holen, obgleich das oratorische Ergebnis nicht glänzend ist.




Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf

er Gedanke, daß die Höhe der Löhne im wesentlichen von der
Organisation der Arbeiter abhänge, und daß der besondre Fall
dieser Organisation, der Aufstand, die wuchtigste Waffe im Lohn¬
kampfe sei, ist noch sehr jung. John Stuart Mill in seinen
letzten Lebensjahren ist sein Vater. Wer an die Siegeskraft der
Wahrheit glaubt, der kann wohl ans dem Siegeslauf, den dieser Gedanke
durch das gesamte soziale Denken der Gegenwart angetreten hat, auf feine
Wahrheit schließen. Millionen und aber Millionen gebildeter und ungebildeter
Menschen glauben an ihn, und fiir zahlreiche „führende" Volkswirtschafter
gehört er zu den Grundthatsachen der wirtschaftlichen Weltanschauung der
Neuzeit. Der Aufstand ist „das" Ereignis in der Entwicklung der Beziehungen
von Arbeitgebern und Arbeitern, und häufig genug ein Ereignis, das,
wie der Hamburger Streik, alle Gebildeten interessirt. Wer aber andrerseits
an die Siegeskraft einer kräftigen Agitation glaubt und ihr namentlich dann
große Erfolge verheißt, wenn der Boden für die verfochtnen Gedanken gut
bereitet ist, der darf sich vielleicht dieser ganzen wirtschaftlichen Vorstellungs-
gruppe etwas kühler gegenüberstellen und sich einmal fragen, ob sie sich denn
mit den sonst für ausgemacht geltenden Grundvoraussetzungen wirtschaftlichen
Denkens in Einklang bringen lassen.

Als in der Neichstagssitzung vom 12. Dezember der Staatssekretär von
Bötticher die Bemerkung fallen ließ, daß die Streiks gegen die Interessen der
Arbeiter seien, gab es „Lärm bei den Sozialdemokraten," und doch bedarf es
nur geringer wirtschaftlicher Bildung, um einzusehen, daß der Streik mindestens
eine zweischneidige Waffe ist, die, selbst wenn die Aufständischen schließlich
mit ihren Forderungen durchdringen, ihnen selbst auf die Dauer und der
Arbeiterschaft im allgemeinen für längere Zeit mehr Schaden zufügt als
Nutzen bringt.


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[0224] Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf unfrei, durch seine und unsre Schuld. Der gute Wille wird mehr zum Vor¬ schein kommen, wenn die Arbeiten in der Regel, der kleinen Mitgliederzahl entsprechend, im Plenum erledigt werden, und die Sitzungen den Charakter von Haupt- und Staatsaktionen verlieren. Ich muß diese Bezeichnung wieder¬ holen, obgleich das oratorische Ergebnis nicht glänzend ist. Der Aufstand als Waffe im Lohnkampf er Gedanke, daß die Höhe der Löhne im wesentlichen von der Organisation der Arbeiter abhänge, und daß der besondre Fall dieser Organisation, der Aufstand, die wuchtigste Waffe im Lohn¬ kampfe sei, ist noch sehr jung. John Stuart Mill in seinen letzten Lebensjahren ist sein Vater. Wer an die Siegeskraft der Wahrheit glaubt, der kann wohl ans dem Siegeslauf, den dieser Gedanke durch das gesamte soziale Denken der Gegenwart angetreten hat, auf feine Wahrheit schließen. Millionen und aber Millionen gebildeter und ungebildeter Menschen glauben an ihn, und fiir zahlreiche „führende" Volkswirtschafter gehört er zu den Grundthatsachen der wirtschaftlichen Weltanschauung der Neuzeit. Der Aufstand ist „das" Ereignis in der Entwicklung der Beziehungen von Arbeitgebern und Arbeitern, und häufig genug ein Ereignis, das, wie der Hamburger Streik, alle Gebildeten interessirt. Wer aber andrerseits an die Siegeskraft einer kräftigen Agitation glaubt und ihr namentlich dann große Erfolge verheißt, wenn der Boden für die verfochtnen Gedanken gut bereitet ist, der darf sich vielleicht dieser ganzen wirtschaftlichen Vorstellungs- gruppe etwas kühler gegenüberstellen und sich einmal fragen, ob sie sich denn mit den sonst für ausgemacht geltenden Grundvoraussetzungen wirtschaftlichen Denkens in Einklang bringen lassen. Als in der Neichstagssitzung vom 12. Dezember der Staatssekretär von Bötticher die Bemerkung fallen ließ, daß die Streiks gegen die Interessen der Arbeiter seien, gab es „Lärm bei den Sozialdemokraten," und doch bedarf es nur geringer wirtschaftlicher Bildung, um einzusehen, daß der Streik mindestens eine zweischneidige Waffe ist, die, selbst wenn die Aufständischen schließlich mit ihren Forderungen durchdringen, ihnen selbst auf die Dauer und der Arbeiterschaft im allgemeinen für längere Zeit mehr Schaden zufügt als Nutzen bringt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/224>, abgerufen am 01.05.2024.