Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts

der Lehrlinge und der Mitglieder künstlich ohne Rücksicht auf die Leistung zu
beschränken; man hat sozialistische Betriebe eingerichtet, Aufstände organisirt
und ganze Industriezweige ruinirt und zur Auswanderung gezwungen. Aber
merkwürdig oder auch nicht merkwürdig: die höchsten Löhne haben sich dauernd
die kleinsten Gewerkvereine erhalten, in deren Geschichte so gut wie keine Auf¬
stände verzeichnet sind.




Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts
Gegenbemerkungen

n einem Aufsatze in Ur. 50 der vorjährigen Grenzboten erwartet
der hochverehrte, erfahrene Verfasser, Präsident Henrici, eine
bedeutende Verminderung der nach seiner Ansicht bei der Aus¬
wahl der Mitglieder des Reichsgerichts vorgekommnen Mißgriffe,
wenn seine Vorschläge berücksichtigt werden, wonach 1. die Mit¬
wirkung der Landesjustizverwaltungen aus einem "Vorschlagsrechte" in die
Einreichung einer Liste der für geeignet erachteten Staatsbeamten verwandelt
werden, 2. der Staatssekretär des Neichsjustizamts die volle Verantwortung
für den dem Bundesrat zu unterbreitenden Antrag übernehmen soll. Es ist
zu bezweifeln, ob diese Vorschläge ausführbar sind und sonderlichen Erfolg
versprechen.

Der Chef des Neichsjustizamts kann die ihm angesonnene Verantwortung
nicht übernehmen, formell nicht, weil er verfassnngsgemüß nnr ein Organ des
allein verantwortlichen Reichskanzlers ist; materiell nicht, weil ihm sein Amt
keine Gelegenheit giebt, mit der Unzahl der zum Richteramt befähigten Männer
in Deutschland die nötige Fühlung zu gewinnen. Nicht einmal die Schriftsteller
unter ihnen kann er selbständig beurteilen. Auch wenn wir die vollste Urteils¬
fähigkeit unbedenklich zugeben, fehlt ihm doch, selbst mit Hilfe seiner Räte,
die Zeit, sich durch die Hochflut juristischer Preßerzeugnisse, soweit als es
zur Beurteilung nötig ist, durchzuarbeiten. Und dann würden wir nichts
mehr bedauern, als wenn zum Maßstabe sür die Tüchtigkeit zum praktischen
Richter dienen sollte, was einer hat drucken lassen. Nur wenige Gottbegnadete
können neben voller Erfüllung ihrer Amtspflichten wirklich gereifte Früchte
ihrer Muße auf den Büchermarkt bringen; mancher Hvchbefähigte verzichtet
darauf, weil ihm sein Gewissen verbietet, die nötige Zeit seinen Amtspflichten


Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts

der Lehrlinge und der Mitglieder künstlich ohne Rücksicht auf die Leistung zu
beschränken; man hat sozialistische Betriebe eingerichtet, Aufstände organisirt
und ganze Industriezweige ruinirt und zur Auswanderung gezwungen. Aber
merkwürdig oder auch nicht merkwürdig: die höchsten Löhne haben sich dauernd
die kleinsten Gewerkvereine erhalten, in deren Geschichte so gut wie keine Auf¬
stände verzeichnet sind.




Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts
Gegenbemerkungen

n einem Aufsatze in Ur. 50 der vorjährigen Grenzboten erwartet
der hochverehrte, erfahrene Verfasser, Präsident Henrici, eine
bedeutende Verminderung der nach seiner Ansicht bei der Aus¬
wahl der Mitglieder des Reichsgerichts vorgekommnen Mißgriffe,
wenn seine Vorschläge berücksichtigt werden, wonach 1. die Mit¬
wirkung der Landesjustizverwaltungen aus einem „Vorschlagsrechte" in die
Einreichung einer Liste der für geeignet erachteten Staatsbeamten verwandelt
werden, 2. der Staatssekretär des Neichsjustizamts die volle Verantwortung
für den dem Bundesrat zu unterbreitenden Antrag übernehmen soll. Es ist
zu bezweifeln, ob diese Vorschläge ausführbar sind und sonderlichen Erfolg
versprechen.

Der Chef des Neichsjustizamts kann die ihm angesonnene Verantwortung
nicht übernehmen, formell nicht, weil er verfassnngsgemüß nnr ein Organ des
allein verantwortlichen Reichskanzlers ist; materiell nicht, weil ihm sein Amt
keine Gelegenheit giebt, mit der Unzahl der zum Richteramt befähigten Männer
in Deutschland die nötige Fühlung zu gewinnen. Nicht einmal die Schriftsteller
unter ihnen kann er selbständig beurteilen. Auch wenn wir die vollste Urteils¬
fähigkeit unbedenklich zugeben, fehlt ihm doch, selbst mit Hilfe seiner Räte,
die Zeit, sich durch die Hochflut juristischer Preßerzeugnisse, soweit als es
zur Beurteilung nötig ist, durchzuarbeiten. Und dann würden wir nichts
mehr bedauern, als wenn zum Maßstabe sür die Tüchtigkeit zum praktischen
Richter dienen sollte, was einer hat drucken lassen. Nur wenige Gottbegnadete
können neben voller Erfüllung ihrer Amtspflichten wirklich gereifte Früchte
ihrer Muße auf den Büchermarkt bringen; mancher Hvchbefähigte verzichtet
darauf, weil ihm sein Gewissen verbietet, die nötige Zeit seinen Amtspflichten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224476"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_613" prev="#ID_612"> der Lehrlinge und der Mitglieder künstlich ohne Rücksicht auf die Leistung zu<lb/>
beschränken; man hat sozialistische Betriebe eingerichtet, Aufstände organisirt<lb/>
und ganze Industriezweige ruinirt und zur Auswanderung gezwungen. Aber<lb/>
merkwürdig oder auch nicht merkwürdig: die höchsten Löhne haben sich dauernd<lb/>
die kleinsten Gewerkvereine erhalten, in deren Geschichte so gut wie keine Auf¬<lb/>
stände verzeichnet sind.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts<lb/>
Gegenbemerkungen </head><lb/>
          <p xml:id="ID_614"> n einem Aufsatze in Ur. 50 der vorjährigen Grenzboten erwartet<lb/>
der hochverehrte, erfahrene Verfasser, Präsident Henrici, eine<lb/>
bedeutende Verminderung der nach seiner Ansicht bei der Aus¬<lb/>
wahl der Mitglieder des Reichsgerichts vorgekommnen Mißgriffe,<lb/>
wenn seine Vorschläge berücksichtigt werden, wonach 1. die Mit¬<lb/>
wirkung der Landesjustizverwaltungen aus einem &#x201E;Vorschlagsrechte" in die<lb/>
Einreichung einer Liste der für geeignet erachteten Staatsbeamten verwandelt<lb/>
werden, 2. der Staatssekretär des Neichsjustizamts die volle Verantwortung<lb/>
für den dem Bundesrat zu unterbreitenden Antrag übernehmen soll. Es ist<lb/>
zu bezweifeln, ob diese Vorschläge ausführbar sind und sonderlichen Erfolg<lb/>
versprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_615" next="#ID_616"> Der Chef des Neichsjustizamts kann die ihm angesonnene Verantwortung<lb/>
nicht übernehmen, formell nicht, weil er verfassnngsgemüß nnr ein Organ des<lb/>
allein verantwortlichen Reichskanzlers ist; materiell nicht, weil ihm sein Amt<lb/>
keine Gelegenheit giebt, mit der Unzahl der zum Richteramt befähigten Männer<lb/>
in Deutschland die nötige Fühlung zu gewinnen. Nicht einmal die Schriftsteller<lb/>
unter ihnen kann er selbständig beurteilen. Auch wenn wir die vollste Urteils¬<lb/>
fähigkeit unbedenklich zugeben, fehlt ihm doch, selbst mit Hilfe seiner Räte,<lb/>
die Zeit, sich durch die Hochflut juristischer Preßerzeugnisse, soweit als es<lb/>
zur Beurteilung nötig ist, durchzuarbeiten. Und dann würden wir nichts<lb/>
mehr bedauern, als wenn zum Maßstabe sür die Tüchtigkeit zum praktischen<lb/>
Richter dienen sollte, was einer hat drucken lassen. Nur wenige Gottbegnadete<lb/>
können neben voller Erfüllung ihrer Amtspflichten wirklich gereifte Früchte<lb/>
ihrer Muße auf den Büchermarkt bringen; mancher Hvchbefähigte verzichtet<lb/>
darauf, weil ihm sein Gewissen verbietet, die nötige Zeit seinen Amtspflichten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0230] Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts der Lehrlinge und der Mitglieder künstlich ohne Rücksicht auf die Leistung zu beschränken; man hat sozialistische Betriebe eingerichtet, Aufstände organisirt und ganze Industriezweige ruinirt und zur Auswanderung gezwungen. Aber merkwürdig oder auch nicht merkwürdig: die höchsten Löhne haben sich dauernd die kleinsten Gewerkvereine erhalten, in deren Geschichte so gut wie keine Auf¬ stände verzeichnet sind. Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts Gegenbemerkungen n einem Aufsatze in Ur. 50 der vorjährigen Grenzboten erwartet der hochverehrte, erfahrene Verfasser, Präsident Henrici, eine bedeutende Verminderung der nach seiner Ansicht bei der Aus¬ wahl der Mitglieder des Reichsgerichts vorgekommnen Mißgriffe, wenn seine Vorschläge berücksichtigt werden, wonach 1. die Mit¬ wirkung der Landesjustizverwaltungen aus einem „Vorschlagsrechte" in die Einreichung einer Liste der für geeignet erachteten Staatsbeamten verwandelt werden, 2. der Staatssekretär des Neichsjustizamts die volle Verantwortung für den dem Bundesrat zu unterbreitenden Antrag übernehmen soll. Es ist zu bezweifeln, ob diese Vorschläge ausführbar sind und sonderlichen Erfolg versprechen. Der Chef des Neichsjustizamts kann die ihm angesonnene Verantwortung nicht übernehmen, formell nicht, weil er verfassnngsgemüß nnr ein Organ des allein verantwortlichen Reichskanzlers ist; materiell nicht, weil ihm sein Amt keine Gelegenheit giebt, mit der Unzahl der zum Richteramt befähigten Männer in Deutschland die nötige Fühlung zu gewinnen. Nicht einmal die Schriftsteller unter ihnen kann er selbständig beurteilen. Auch wenn wir die vollste Urteils¬ fähigkeit unbedenklich zugeben, fehlt ihm doch, selbst mit Hilfe seiner Räte, die Zeit, sich durch die Hochflut juristischer Preßerzeugnisse, soweit als es zur Beurteilung nötig ist, durchzuarbeiten. Und dann würden wir nichts mehr bedauern, als wenn zum Maßstabe sür die Tüchtigkeit zum praktischen Richter dienen sollte, was einer hat drucken lassen. Nur wenige Gottbegnadete können neben voller Erfüllung ihrer Amtspflichten wirklich gereifte Früchte ihrer Muße auf den Büchermarkt bringen; mancher Hvchbefähigte verzichtet darauf, weil ihm sein Gewissen verbietet, die nötige Zeit seinen Amtspflichten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/230
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/230>, abgerufen am 01.05.2024.