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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst
v Adolf Bartels on (Schluß)

le Maeaulaysche Beweisführung ist -- das glaube ich nach¬
gewiesen zu haben -- im ganzen hinfällig. Dennoch ist nicht
zu leugnen, daß die Kultur ihren Einfluß auf die Poesie übt.
Ich habe schon zugestanden, daß sie das Epos, das alte
objektive Versepos getötet habe -- ein kurzer geschichtlicher
Überblick erhebt das zur Gewißheit. Nach deu homerischen Epen haben die
Griechen, nach dem Nibelungenlied wir Deutschen kein wirkliches Epos mehr
hervorgebracht -- weder Apollonios von Rhodos noch Klopstock ist imstande
gewesen, ein wirkliches Epos zu schaffen. Und Virgil, Dante, Ariost und
Tasso, Milton? Über Virgil wird wohl jetzt das Urteil feststehen, daß seine
Äneis nichts weiter als eine Kunstepopöe ist, die bei manchen guten Eigen¬
schaften doch kein wahres Leben hat. Dasselbe gilt von Tassos berühmtem
Epos, obwohl Tasso ein größerer Dichter war als Virgil, und noch viel mehr
von den zahlreichen Nachahmungen beider, von Voltaires "Henriade" und so
fort. Der Reiz von Dantes und zum Teil auch von Miltons Werk beruht
in der Hauptsache schon auf ihrem subjektiven Gehalt, doch sind allerdings
beide Dichter auch noch die Vertreter ihres Volkes und ihrer Zeit, Dante des
an der Schwelle der Renaissance stehenden Italiens, der Mensch des Mittel¬
alters und doch schon ein moderner Mensch, Milton des englischen Puritcmcr-
tums, und so ist hier immer noch eine Wirkung wie die des Volksepos möglich.
Dahinter bleibt die des romantischen Epos des Ariost weit zurück; wenn es
trotzdem noch lebendig ist, so liegt das gleichfalls an der subjektiven Art, es
bildet den Übergang zum modernen Epos. Giebt es aber ein solches? Für
gewöhnlich nimmt man an, daß der Roman das alte Epos ersetzt habe, und
das ist auch richtig; dennoch ist ein modernes subjektives Epos bereits ent¬
standen, als dessen Meisterleistung bis jetzt Byrons Don Juan zu gelten hat.
Während alle Versuche, ein neues mythisches oder rein historisches Epos zu
schaffen, unglücklich verlaufen sind, da der moderne, vom Volksganzen abgelöste
Mensch nicht imstande war, die alte große Form auszufüllen, ist es doch ge-




Die sterbende Dichtkunst
v Adolf Bartels on (Schluß)

le Maeaulaysche Beweisführung ist — das glaube ich nach¬
gewiesen zu haben — im ganzen hinfällig. Dennoch ist nicht
zu leugnen, daß die Kultur ihren Einfluß auf die Poesie übt.
Ich habe schon zugestanden, daß sie das Epos, das alte
objektive Versepos getötet habe — ein kurzer geschichtlicher
Überblick erhebt das zur Gewißheit. Nach deu homerischen Epen haben die
Griechen, nach dem Nibelungenlied wir Deutschen kein wirkliches Epos mehr
hervorgebracht — weder Apollonios von Rhodos noch Klopstock ist imstande
gewesen, ein wirkliches Epos zu schaffen. Und Virgil, Dante, Ariost und
Tasso, Milton? Über Virgil wird wohl jetzt das Urteil feststehen, daß seine
Äneis nichts weiter als eine Kunstepopöe ist, die bei manchen guten Eigen¬
schaften doch kein wahres Leben hat. Dasselbe gilt von Tassos berühmtem
Epos, obwohl Tasso ein größerer Dichter war als Virgil, und noch viel mehr
von den zahlreichen Nachahmungen beider, von Voltaires „Henriade" und so
fort. Der Reiz von Dantes und zum Teil auch von Miltons Werk beruht
in der Hauptsache schon auf ihrem subjektiven Gehalt, doch sind allerdings
beide Dichter auch noch die Vertreter ihres Volkes und ihrer Zeit, Dante des
an der Schwelle der Renaissance stehenden Italiens, der Mensch des Mittel¬
alters und doch schon ein moderner Mensch, Milton des englischen Puritcmcr-
tums, und so ist hier immer noch eine Wirkung wie die des Volksepos möglich.
Dahinter bleibt die des romantischen Epos des Ariost weit zurück; wenn es
trotzdem noch lebendig ist, so liegt das gleichfalls an der subjektiven Art, es
bildet den Übergang zum modernen Epos. Giebt es aber ein solches? Für
gewöhnlich nimmt man an, daß der Roman das alte Epos ersetzt habe, und
das ist auch richtig; dennoch ist ein modernes subjektives Epos bereits ent¬
standen, als dessen Meisterleistung bis jetzt Byrons Don Juan zu gelten hat.
Während alle Versuche, ein neues mythisches oder rein historisches Epos zu
schaffen, unglücklich verlaufen sind, da der moderne, vom Volksganzen abgelöste
Mensch nicht imstande war, die alte große Form auszufüllen, ist es doch ge-


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[0236] [Abbildung] Die sterbende Dichtkunst v Adolf Bartels on (Schluß) le Maeaulaysche Beweisführung ist — das glaube ich nach¬ gewiesen zu haben — im ganzen hinfällig. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß die Kultur ihren Einfluß auf die Poesie übt. Ich habe schon zugestanden, daß sie das Epos, das alte objektive Versepos getötet habe — ein kurzer geschichtlicher Überblick erhebt das zur Gewißheit. Nach deu homerischen Epen haben die Griechen, nach dem Nibelungenlied wir Deutschen kein wirkliches Epos mehr hervorgebracht — weder Apollonios von Rhodos noch Klopstock ist imstande gewesen, ein wirkliches Epos zu schaffen. Und Virgil, Dante, Ariost und Tasso, Milton? Über Virgil wird wohl jetzt das Urteil feststehen, daß seine Äneis nichts weiter als eine Kunstepopöe ist, die bei manchen guten Eigen¬ schaften doch kein wahres Leben hat. Dasselbe gilt von Tassos berühmtem Epos, obwohl Tasso ein größerer Dichter war als Virgil, und noch viel mehr von den zahlreichen Nachahmungen beider, von Voltaires „Henriade" und so fort. Der Reiz von Dantes und zum Teil auch von Miltons Werk beruht in der Hauptsache schon auf ihrem subjektiven Gehalt, doch sind allerdings beide Dichter auch noch die Vertreter ihres Volkes und ihrer Zeit, Dante des an der Schwelle der Renaissance stehenden Italiens, der Mensch des Mittel¬ alters und doch schon ein moderner Mensch, Milton des englischen Puritcmcr- tums, und so ist hier immer noch eine Wirkung wie die des Volksepos möglich. Dahinter bleibt die des romantischen Epos des Ariost weit zurück; wenn es trotzdem noch lebendig ist, so liegt das gleichfalls an der subjektiven Art, es bildet den Übergang zum modernen Epos. Giebt es aber ein solches? Für gewöhnlich nimmt man an, daß der Roman das alte Epos ersetzt habe, und das ist auch richtig; dennoch ist ein modernes subjektives Epos bereits ent¬ standen, als dessen Meisterleistung bis jetzt Byrons Don Juan zu gelten hat. Während alle Versuche, ein neues mythisches oder rein historisches Epos zu schaffen, unglücklich verlaufen sind, da der moderne, vom Volksganzen abgelöste Mensch nicht imstande war, die alte große Form auszufüllen, ist es doch ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/236>, abgerufen am 01.05.2024.