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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die sterbende Dichtkunst

lungen, eine neue vollwertige epische Form zu finden, in der das Leben in
seiner ganzen Breite gespiegelt werden kann, wohlverstanden aber nur durch
das Medium, in den Schicksalen und Anschauungen eines Menschen, sodaß
die Persönlichkeit des Dichters den ganzen Gehalt der Dichtung ergiebt.
Dieses moderne subjektive Epos, das sicherlich noch in der Entwicklung be¬
griffen ist, erscheint aber von einem bestimmten Gesichtspunkt aus geradezu
als Erzeugnis der Kultur, und so haben wir denn jetzt das Ergebnis, daß
die Kultur wohl einzelne Formen der Poesie tötet, dafür aber auch neue schafft,
und zwar oft mehrere neue für eine alte. Wir sahen schon, daß die Kultur
zwischen Poesie und Wissenschaft eine Scheidung hervorgerufen hat; ähnliches
sehen wir wieder hier, wo sie das alte objektive Epos durch den Roman und
das subjektive Epos ersetzt, und wir treffen wohl das Nichtige, wenn wir nun
ganz einfach sagen: die Hauptwirkung der Kultur aus dem Gebiete der Kunst
ist die, daß sie spezialisirt. Alte Gattungen und Formen vergehen, aber nicht
spurlos, es werden aus ihnen neue geboren, und die Nachkommen sind zahl¬
reicher als die Ahnen. Die Naturgeschichte lehrt, daß es in der Natur genau
so zugeht, und damit -- doch es hat wohl noch niemand ernsthaft bezweifelt,
daß auch in der Kulturgeschichte des Menschen die Naturgesetze wirksam sind.

Nachkommen entarten aber oft, und so könnten auch die Formen der Poesie
durch die Kultur allmählich zur Prosa herabgebracht werden. Ist z. B. der
moderne Roman noch wirkliche Poesie? Daß er von sehr starker Wirkung auf
die Völker ist, die der des alten Epos nichts nachgiebt -- nnr brauchen wir
tausend Romane, wo sonst ein Epos genügte --, ist schwerlich zu bestreiten,
aber es üben diese Wirkung vielleicht gerade prosaische, d. h. nicht durch die
Dichterphautasie hindurchgegangne Bestandteile? Am Ende ist wenigstens der
naturalistische Roman reine Prosa, eine Verbindung von Analyse und Be¬
schreibung, die keine Anstrengung der Phantasie mehr erfordert? Es fällt mir
natürlich nicht ein, zu leugnen, daß eine Unmasse von Romanen völlig aus
dem Nahmen der Poesie herausfällt, aber die Absicht, das Leben darzustellen,
haben doch die meiste", und eine kleine Anzahl erreicht bei allen Völkern trotz
der äußern prosaischen Form die volle innere dichterische Durchbildung, sodaß
ihr, wenn auch nicht die Bedeutung des alten Epos zugestanden, doch eine
dauernde Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Der Roman ist freilich
enger mit dem Zufälligen -- ich wähle das Wort, obwohl ich weiß, daß es
im Grunde nichts Zufälliges giebt -- im Leben der Völker und der Strömung
der Zeiten verknüpft als das Epos, er schleppt mehr "Erde" mit sich als
dieses, und weil er sich durchaus als die Arbeit eines Einzelnen darstellt, ist
das auch nur natürlich, aber ein großer Dichter kann doch sehr wohl auch im
Zufälligen das Notwendige zur Erscheinung bringen, und das haben Genies
wie Cervantes, wie Goethe unzweifelhaft auch gethan. Die naturalistische Form
des Romans, die die Berücksichtigung aller Zufälligkeiten geradezu verlangt,


Die sterbende Dichtkunst

lungen, eine neue vollwertige epische Form zu finden, in der das Leben in
seiner ganzen Breite gespiegelt werden kann, wohlverstanden aber nur durch
das Medium, in den Schicksalen und Anschauungen eines Menschen, sodaß
die Persönlichkeit des Dichters den ganzen Gehalt der Dichtung ergiebt.
Dieses moderne subjektive Epos, das sicherlich noch in der Entwicklung be¬
griffen ist, erscheint aber von einem bestimmten Gesichtspunkt aus geradezu
als Erzeugnis der Kultur, und so haben wir denn jetzt das Ergebnis, daß
die Kultur wohl einzelne Formen der Poesie tötet, dafür aber auch neue schafft,
und zwar oft mehrere neue für eine alte. Wir sahen schon, daß die Kultur
zwischen Poesie und Wissenschaft eine Scheidung hervorgerufen hat; ähnliches
sehen wir wieder hier, wo sie das alte objektive Epos durch den Roman und
das subjektive Epos ersetzt, und wir treffen wohl das Nichtige, wenn wir nun
ganz einfach sagen: die Hauptwirkung der Kultur aus dem Gebiete der Kunst
ist die, daß sie spezialisirt. Alte Gattungen und Formen vergehen, aber nicht
spurlos, es werden aus ihnen neue geboren, und die Nachkommen sind zahl¬
reicher als die Ahnen. Die Naturgeschichte lehrt, daß es in der Natur genau
so zugeht, und damit — doch es hat wohl noch niemand ernsthaft bezweifelt,
daß auch in der Kulturgeschichte des Menschen die Naturgesetze wirksam sind.

Nachkommen entarten aber oft, und so könnten auch die Formen der Poesie
durch die Kultur allmählich zur Prosa herabgebracht werden. Ist z. B. der
moderne Roman noch wirkliche Poesie? Daß er von sehr starker Wirkung auf
die Völker ist, die der des alten Epos nichts nachgiebt — nnr brauchen wir
tausend Romane, wo sonst ein Epos genügte —, ist schwerlich zu bestreiten,
aber es üben diese Wirkung vielleicht gerade prosaische, d. h. nicht durch die
Dichterphautasie hindurchgegangne Bestandteile? Am Ende ist wenigstens der
naturalistische Roman reine Prosa, eine Verbindung von Analyse und Be¬
schreibung, die keine Anstrengung der Phantasie mehr erfordert? Es fällt mir
natürlich nicht ein, zu leugnen, daß eine Unmasse von Romanen völlig aus
dem Nahmen der Poesie herausfällt, aber die Absicht, das Leben darzustellen,
haben doch die meiste«, und eine kleine Anzahl erreicht bei allen Völkern trotz
der äußern prosaischen Form die volle innere dichterische Durchbildung, sodaß
ihr, wenn auch nicht die Bedeutung des alten Epos zugestanden, doch eine
dauernde Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Der Roman ist freilich
enger mit dem Zufälligen — ich wähle das Wort, obwohl ich weiß, daß es
im Grunde nichts Zufälliges giebt — im Leben der Völker und der Strömung
der Zeiten verknüpft als das Epos, er schleppt mehr „Erde" mit sich als
dieses, und weil er sich durchaus als die Arbeit eines Einzelnen darstellt, ist
das auch nur natürlich, aber ein großer Dichter kann doch sehr wohl auch im
Zufälligen das Notwendige zur Erscheinung bringen, und das haben Genies
wie Cervantes, wie Goethe unzweifelhaft auch gethan. Die naturalistische Form
des Romans, die die Berücksichtigung aller Zufälligkeiten geradezu verlangt,


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[0237] Die sterbende Dichtkunst lungen, eine neue vollwertige epische Form zu finden, in der das Leben in seiner ganzen Breite gespiegelt werden kann, wohlverstanden aber nur durch das Medium, in den Schicksalen und Anschauungen eines Menschen, sodaß die Persönlichkeit des Dichters den ganzen Gehalt der Dichtung ergiebt. Dieses moderne subjektive Epos, das sicherlich noch in der Entwicklung be¬ griffen ist, erscheint aber von einem bestimmten Gesichtspunkt aus geradezu als Erzeugnis der Kultur, und so haben wir denn jetzt das Ergebnis, daß die Kultur wohl einzelne Formen der Poesie tötet, dafür aber auch neue schafft, und zwar oft mehrere neue für eine alte. Wir sahen schon, daß die Kultur zwischen Poesie und Wissenschaft eine Scheidung hervorgerufen hat; ähnliches sehen wir wieder hier, wo sie das alte objektive Epos durch den Roman und das subjektive Epos ersetzt, und wir treffen wohl das Nichtige, wenn wir nun ganz einfach sagen: die Hauptwirkung der Kultur aus dem Gebiete der Kunst ist die, daß sie spezialisirt. Alte Gattungen und Formen vergehen, aber nicht spurlos, es werden aus ihnen neue geboren, und die Nachkommen sind zahl¬ reicher als die Ahnen. Die Naturgeschichte lehrt, daß es in der Natur genau so zugeht, und damit — doch es hat wohl noch niemand ernsthaft bezweifelt, daß auch in der Kulturgeschichte des Menschen die Naturgesetze wirksam sind. Nachkommen entarten aber oft, und so könnten auch die Formen der Poesie durch die Kultur allmählich zur Prosa herabgebracht werden. Ist z. B. der moderne Roman noch wirkliche Poesie? Daß er von sehr starker Wirkung auf die Völker ist, die der des alten Epos nichts nachgiebt — nnr brauchen wir tausend Romane, wo sonst ein Epos genügte —, ist schwerlich zu bestreiten, aber es üben diese Wirkung vielleicht gerade prosaische, d. h. nicht durch die Dichterphautasie hindurchgegangne Bestandteile? Am Ende ist wenigstens der naturalistische Roman reine Prosa, eine Verbindung von Analyse und Be¬ schreibung, die keine Anstrengung der Phantasie mehr erfordert? Es fällt mir natürlich nicht ein, zu leugnen, daß eine Unmasse von Romanen völlig aus dem Nahmen der Poesie herausfällt, aber die Absicht, das Leben darzustellen, haben doch die meiste«, und eine kleine Anzahl erreicht bei allen Völkern trotz der äußern prosaischen Form die volle innere dichterische Durchbildung, sodaß ihr, wenn auch nicht die Bedeutung des alten Epos zugestanden, doch eine dauernde Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Der Roman ist freilich enger mit dem Zufälligen — ich wähle das Wort, obwohl ich weiß, daß es im Grunde nichts Zufälliges giebt — im Leben der Völker und der Strömung der Zeiten verknüpft als das Epos, er schleppt mehr „Erde" mit sich als dieses, und weil er sich durchaus als die Arbeit eines Einzelnen darstellt, ist das auch nur natürlich, aber ein großer Dichter kann doch sehr wohl auch im Zufälligen das Notwendige zur Erscheinung bringen, und das haben Genies wie Cervantes, wie Goethe unzweifelhaft auch gethan. Die naturalistische Form des Romans, die die Berücksichtigung aller Zufälligkeiten geradezu verlangt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/237>, abgerufen am 21.05.2024.