Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Feine

Freischöffen greifen unverklagt und ihm seine Hände vorn zusammen und ein
Tuch vor seine Augen binden und ihn auf seinen Bauch werfen und ihm seine
Zunge hinten aus seinem Nacken winden und ihm einen dreisträngigen Strick
um seinen Hals thun und ihn sieben Fuß höher hängen als einen verur¬
teilten, versenken, missethätigen Dieb."

Die wichtigsten Geheimnisse waren die Lösung, das Erkennungszeichen
(der heimliche Schöppengruß) und das Nvtwort. Die Losung, ein Teil des
Schöffeneides, bestand in den unscheinbaren Worten: "Stock, Stein, Gras,
Grein." Der heimliche Schöppengruß war von einer vorgeschriebnen Hand¬
bewegung begleitet: der ankommende Schöffe legte seine Rechte auf die linke
Schulter des Amtsgenossen und redete ihn an:


U"I< ^rut/ lovvs MÄH,
Vile jAll^o Ili All?

Der Angeredete erwiderte die Handbewegung und sagte dabei die Worte:


^.IIvli Olüvlco Icolirs in,
V/o <dis k'rsivnsvdoxxvQ sin.

Das Nvtwort endlich, "wie es Carolus Magnus der heimlichen Acht gegeben,"
bildete der rätselhafte Spruch: Röinir clor I'öVöii! (Gereinigt dnrch Feuer?),
dessen eigentliche Bedeutung bis heute noch nicht aufgeklärt worden ist. Ans
Verrat dieser Geheimnisse stand die Todesstrafe, doch ist er wohl selten vor¬
gekommen.

Bald wurde aber der düstre Begriff der Heimlichkeit auf das ganze Ver¬
fahren vor dem Gericht ausgedehnt. Die Warnung eines Versenden war
streng verboten, mochte es auch der nächste Anverwandte sein. Briefen und
Vorladungen, die von dem Gericht ausgingen oder schwebende Sachen betrafen,
wurde die warnende Aufschrift beigefügt: "Diesen Brief soll niemand aufbrechen,
lesen oder lesen hören, es sei denn ein echter, rechter Freischöffe." Es kam selten
vor, daß die schreckende Formel nicht beachtet wurde. Auch die Rechtsbücher
der Feine erhielten in der Regel auf dem Titelblatt den unheimlichen Vermerk.
Häufig wurden die Wörter im Schöffeneide, die die geheime Lösung bildeten,
nicht ausgeschrieben, sondern mir durch die Anfangsbuchstaben (L. L. O.)
oder andre, beliebig gewählte Buchstaben angedeutet.


I. Das offne und das heimliche Ding

Denselben feierlichen Ernst, der die Zeremonie der Aufnahme eines Schöffen
begleitete, trug auch das Gericht selbst zur Schau.

Die Femegerichte wurden nach urgermanischer Sitte gehegt an altherkömm¬
lichen Malstütten unter freiem Himmel, gewöhnlich Montags, Dienstags und
Donerstags vom Morgen, "sobald sich die Sonne erhöht hatte," bis zum Nach¬
mittage. Die Gerichtsstütte befand sich gewöhnlich an der offnen Königsstraße,
oft bei Brücken, zuweilen auf Hügeln oder in den Vorhöfen von Burgen, doch
auch innerhalb der Städte anf dem Markt oder neben der Kirche, nicht selten
äußerlich gekennzeichnet durch hochragende Eichen oder breitwipflige Linden,
die der Versammlung Schatten spendeten. In der Mitte der eingefriedigten
Dingstätte befand sich die Nichterbank und der Gerichtstisch, mit weißem Linnen
bedeckt. Auf ihm lag ein blinkendes Schwert und ein aus Weiden geflvchtner
Strick (^viele).


Die Feine

Freischöffen greifen unverklagt und ihm seine Hände vorn zusammen und ein
Tuch vor seine Augen binden und ihn auf seinen Bauch werfen und ihm seine
Zunge hinten aus seinem Nacken winden und ihm einen dreisträngigen Strick
um seinen Hals thun und ihn sieben Fuß höher hängen als einen verur¬
teilten, versenken, missethätigen Dieb."

Die wichtigsten Geheimnisse waren die Lösung, das Erkennungszeichen
(der heimliche Schöppengruß) und das Nvtwort. Die Losung, ein Teil des
Schöffeneides, bestand in den unscheinbaren Worten: „Stock, Stein, Gras,
Grein." Der heimliche Schöppengruß war von einer vorgeschriebnen Hand¬
bewegung begleitet: der ankommende Schöffe legte seine Rechte auf die linke
Schulter des Amtsgenossen und redete ihn an:


U«I< ^rut/ lovvs MÄH,
Vile jAll^o Ili All?

Der Angeredete erwiderte die Handbewegung und sagte dabei die Worte:


^.IIvli Olüvlco Icolirs in,
V/o <dis k'rsivnsvdoxxvQ sin.

Das Nvtwort endlich, „wie es Carolus Magnus der heimlichen Acht gegeben,"
bildete der rätselhafte Spruch: Röinir clor I'öVöii! (Gereinigt dnrch Feuer?),
dessen eigentliche Bedeutung bis heute noch nicht aufgeklärt worden ist. Ans
Verrat dieser Geheimnisse stand die Todesstrafe, doch ist er wohl selten vor¬
gekommen.

Bald wurde aber der düstre Begriff der Heimlichkeit auf das ganze Ver¬
fahren vor dem Gericht ausgedehnt. Die Warnung eines Versenden war
streng verboten, mochte es auch der nächste Anverwandte sein. Briefen und
Vorladungen, die von dem Gericht ausgingen oder schwebende Sachen betrafen,
wurde die warnende Aufschrift beigefügt: „Diesen Brief soll niemand aufbrechen,
lesen oder lesen hören, es sei denn ein echter, rechter Freischöffe." Es kam selten
vor, daß die schreckende Formel nicht beachtet wurde. Auch die Rechtsbücher
der Feine erhielten in der Regel auf dem Titelblatt den unheimlichen Vermerk.
Häufig wurden die Wörter im Schöffeneide, die die geheime Lösung bildeten,
nicht ausgeschrieben, sondern mir durch die Anfangsbuchstaben (L. L. O.)
oder andre, beliebig gewählte Buchstaben angedeutet.


I. Das offne und das heimliche Ding

Denselben feierlichen Ernst, der die Zeremonie der Aufnahme eines Schöffen
begleitete, trug auch das Gericht selbst zur Schau.

Die Femegerichte wurden nach urgermanischer Sitte gehegt an altherkömm¬
lichen Malstütten unter freiem Himmel, gewöhnlich Montags, Dienstags und
Donerstags vom Morgen, „sobald sich die Sonne erhöht hatte," bis zum Nach¬
mittage. Die Gerichtsstütte befand sich gewöhnlich an der offnen Königsstraße,
oft bei Brücken, zuweilen auf Hügeln oder in den Vorhöfen von Burgen, doch
auch innerhalb der Städte anf dem Markt oder neben der Kirche, nicht selten
äußerlich gekennzeichnet durch hochragende Eichen oder breitwipflige Linden,
die der Versammlung Schatten spendeten. In der Mitte der eingefriedigten
Dingstätte befand sich die Nichterbank und der Gerichtstisch, mit weißem Linnen
bedeckt. Auf ihm lag ein blinkendes Schwert und ein aus Weiden geflvchtner
Strick (^viele).


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0366" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224612"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Feine</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1082" prev="#ID_1081"> Freischöffen greifen unverklagt und ihm seine Hände vorn zusammen und ein<lb/>
Tuch vor seine Augen binden und ihn auf seinen Bauch werfen und ihm seine<lb/>
Zunge hinten aus seinem Nacken winden und ihm einen dreisträngigen Strick<lb/>
um seinen Hals thun und ihn sieben Fuß höher hängen als einen verur¬<lb/>
teilten, versenken, missethätigen Dieb."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1083"> Die wichtigsten Geheimnisse waren die Lösung, das Erkennungszeichen<lb/>
(der heimliche Schöppengruß) und das Nvtwort. Die Losung, ein Teil des<lb/>
Schöffeneides, bestand in den unscheinbaren Worten: &#x201E;Stock, Stein, Gras,<lb/>
Grein." Der heimliche Schöppengruß war von einer vorgeschriebnen Hand¬<lb/>
bewegung begleitet: der ankommende Schöffe legte seine Rechte auf die linke<lb/>
Schulter des Amtsgenossen und redete ihn an:</p><lb/>
            <quote> U«I&lt; ^rut/   lovvs MÄH,<lb/>
Vile jAll^o   Ili All?</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1084"> Der Angeredete erwiderte die Handbewegung und sagte dabei die Worte:</p><lb/>
            <quote> ^.IIvli Olüvlco Icolirs in,<lb/>
V/o &lt;dis k'rsivnsvdoxxvQ sin.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_1085"> Das Nvtwort endlich, &#x201E;wie es Carolus Magnus der heimlichen Acht gegeben,"<lb/>
bildete der rätselhafte Spruch: Röinir clor I'öVöii! (Gereinigt dnrch Feuer?),<lb/>
dessen eigentliche Bedeutung bis heute noch nicht aufgeklärt worden ist. Ans<lb/>
Verrat dieser Geheimnisse stand die Todesstrafe, doch ist er wohl selten vor¬<lb/>
gekommen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1086"> Bald wurde aber der düstre Begriff der Heimlichkeit auf das ganze Ver¬<lb/>
fahren vor dem Gericht ausgedehnt. Die Warnung eines Versenden war<lb/>
streng verboten, mochte es auch der nächste Anverwandte sein. Briefen und<lb/>
Vorladungen, die von dem Gericht ausgingen oder schwebende Sachen betrafen,<lb/>
wurde die warnende Aufschrift beigefügt: &#x201E;Diesen Brief soll niemand aufbrechen,<lb/>
lesen oder lesen hören, es sei denn ein echter, rechter Freischöffe." Es kam selten<lb/>
vor, daß die schreckende Formel nicht beachtet wurde. Auch die Rechtsbücher<lb/>
der Feine erhielten in der Regel auf dem Titelblatt den unheimlichen Vermerk.<lb/>
Häufig wurden die Wörter im Schöffeneide, die die geheime Lösung bildeten,<lb/>
nicht ausgeschrieben, sondern mir durch die Anfangsbuchstaben (L. L. O.)<lb/>
oder andre, beliebig gewählte Buchstaben angedeutet.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> I. Das offne und das heimliche Ding</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1087"> Denselben feierlichen Ernst, der die Zeremonie der Aufnahme eines Schöffen<lb/>
begleitete, trug auch das Gericht selbst zur Schau.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1088"> Die Femegerichte wurden nach urgermanischer Sitte gehegt an altherkömm¬<lb/>
lichen Malstütten unter freiem Himmel, gewöhnlich Montags, Dienstags und<lb/>
Donerstags vom Morgen, &#x201E;sobald sich die Sonne erhöht hatte," bis zum Nach¬<lb/>
mittage. Die Gerichtsstütte befand sich gewöhnlich an der offnen Königsstraße,<lb/>
oft bei Brücken, zuweilen auf Hügeln oder in den Vorhöfen von Burgen, doch<lb/>
auch innerhalb der Städte anf dem Markt oder neben der Kirche, nicht selten<lb/>
äußerlich gekennzeichnet durch hochragende Eichen oder breitwipflige Linden,<lb/>
die der Versammlung Schatten spendeten. In der Mitte der eingefriedigten<lb/>
Dingstätte befand sich die Nichterbank und der Gerichtstisch, mit weißem Linnen<lb/>
bedeckt. Auf ihm lag ein blinkendes Schwert und ein aus Weiden geflvchtner<lb/>
Strick (^viele).</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0366] Die Feine Freischöffen greifen unverklagt und ihm seine Hände vorn zusammen und ein Tuch vor seine Augen binden und ihn auf seinen Bauch werfen und ihm seine Zunge hinten aus seinem Nacken winden und ihm einen dreisträngigen Strick um seinen Hals thun und ihn sieben Fuß höher hängen als einen verur¬ teilten, versenken, missethätigen Dieb." Die wichtigsten Geheimnisse waren die Lösung, das Erkennungszeichen (der heimliche Schöppengruß) und das Nvtwort. Die Losung, ein Teil des Schöffeneides, bestand in den unscheinbaren Worten: „Stock, Stein, Gras, Grein." Der heimliche Schöppengruß war von einer vorgeschriebnen Hand¬ bewegung begleitet: der ankommende Schöffe legte seine Rechte auf die linke Schulter des Amtsgenossen und redete ihn an: U«I< ^rut/ lovvs MÄH, Vile jAll^o Ili All? Der Angeredete erwiderte die Handbewegung und sagte dabei die Worte: ^.IIvli Olüvlco Icolirs in, V/o <dis k'rsivnsvdoxxvQ sin. Das Nvtwort endlich, „wie es Carolus Magnus der heimlichen Acht gegeben," bildete der rätselhafte Spruch: Röinir clor I'öVöii! (Gereinigt dnrch Feuer?), dessen eigentliche Bedeutung bis heute noch nicht aufgeklärt worden ist. Ans Verrat dieser Geheimnisse stand die Todesstrafe, doch ist er wohl selten vor¬ gekommen. Bald wurde aber der düstre Begriff der Heimlichkeit auf das ganze Ver¬ fahren vor dem Gericht ausgedehnt. Die Warnung eines Versenden war streng verboten, mochte es auch der nächste Anverwandte sein. Briefen und Vorladungen, die von dem Gericht ausgingen oder schwebende Sachen betrafen, wurde die warnende Aufschrift beigefügt: „Diesen Brief soll niemand aufbrechen, lesen oder lesen hören, es sei denn ein echter, rechter Freischöffe." Es kam selten vor, daß die schreckende Formel nicht beachtet wurde. Auch die Rechtsbücher der Feine erhielten in der Regel auf dem Titelblatt den unheimlichen Vermerk. Häufig wurden die Wörter im Schöffeneide, die die geheime Lösung bildeten, nicht ausgeschrieben, sondern mir durch die Anfangsbuchstaben (L. L. O.) oder andre, beliebig gewählte Buchstaben angedeutet. I. Das offne und das heimliche Ding Denselben feierlichen Ernst, der die Zeremonie der Aufnahme eines Schöffen begleitete, trug auch das Gericht selbst zur Schau. Die Femegerichte wurden nach urgermanischer Sitte gehegt an altherkömm¬ lichen Malstütten unter freiem Himmel, gewöhnlich Montags, Dienstags und Donerstags vom Morgen, „sobald sich die Sonne erhöht hatte," bis zum Nach¬ mittage. Die Gerichtsstütte befand sich gewöhnlich an der offnen Königsstraße, oft bei Brücken, zuweilen auf Hügeln oder in den Vorhöfen von Burgen, doch auch innerhalb der Städte anf dem Markt oder neben der Kirche, nicht selten äußerlich gekennzeichnet durch hochragende Eichen oder breitwipflige Linden, die der Versammlung Schatten spendeten. In der Mitte der eingefriedigten Dingstätte befand sich die Nichterbank und der Gerichtstisch, mit weißem Linnen bedeckt. Auf ihm lag ein blinkendes Schwert und ein aus Weiden geflvchtner Strick (^viele).

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/366
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/366>, abgerufen am 01.05.2024.