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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Kreta

le Zeit ist längst vorbei, wo der deutsche Philister ein Biertisch
und bei der Pfeife behaglich sagen konnte:


Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten weit in der Türkei
Die Völker auf einander schlagen.

Heute fühlt auch der deutsche Bürger, daß ihn dergleichen recht viel angeht,
daß ihm ein Brand im Südosten unter Umständen recht unbequem werden und
das eigne Haus versengen kann.

Nur zeigt die deutsche Presse wieder einmal in ihrer Hauptmasse ein merk¬
würdig geringes Verständnis für den Charakter der Ereignisse auf und um
Kreta. Sie stellt sich einfach auf den Standpunkt des formalen Rechts. Die
Kreter haben sich gegen ihren legitimen Herrn, den Sultan, erhoben, die griechische
Regierung unterstützt die Aufständischen, indem sie mit gröbster Verletzung des
Völkerrechts Schiffe und Truppen nach der Insel sendet, also unzweifelhaft
feindliche Handlungen gegen eine von ganz Europa anerkannte Regierung
ausübt und nicht nur den Anspruch erhebt, sondern im vollen Zuge ist, ihn
durchzuführen, nämlich das Land unter ihren Schutz zu nehmen. Das ist
nicht nur ein Rechtsbruch, sondern auch eine unerträgliche Frechheit dieses
bankerotten kleinen Staates, der nicht einmal die Wucherzinsen seiner Gläubiger
bezahlt und nun sich obendrein herausnimmt, dem "einmütiger" Willen der Gro߬
mächte zu trotzen, ein Verfahren, das schleunige und exemplarische Züchtigung
verdient, damit der verletzte Rechtszustand und die geringgeschätzte Autorität der
Großmächte wiederhergestellt werde. Gemach, ihr Herren! Daß ein Bruch des
formellen Völkerrechts vorliegt, kann niemand leugnen, denn jede Revolution
ist ein Bruch des Rechts und kaun ihre innere, höhere Berechtigung nur durch


Grenzboten I 1897 47


Kreta

le Zeit ist längst vorbei, wo der deutsche Philister ein Biertisch
und bei der Pfeife behaglich sagen konnte:


Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten weit in der Türkei
Die Völker auf einander schlagen.

Heute fühlt auch der deutsche Bürger, daß ihn dergleichen recht viel angeht,
daß ihm ein Brand im Südosten unter Umständen recht unbequem werden und
das eigne Haus versengen kann.

Nur zeigt die deutsche Presse wieder einmal in ihrer Hauptmasse ein merk¬
würdig geringes Verständnis für den Charakter der Ereignisse auf und um
Kreta. Sie stellt sich einfach auf den Standpunkt des formalen Rechts. Die
Kreter haben sich gegen ihren legitimen Herrn, den Sultan, erhoben, die griechische
Regierung unterstützt die Aufständischen, indem sie mit gröbster Verletzung des
Völkerrechts Schiffe und Truppen nach der Insel sendet, also unzweifelhaft
feindliche Handlungen gegen eine von ganz Europa anerkannte Regierung
ausübt und nicht nur den Anspruch erhebt, sondern im vollen Zuge ist, ihn
durchzuführen, nämlich das Land unter ihren Schutz zu nehmen. Das ist
nicht nur ein Rechtsbruch, sondern auch eine unerträgliche Frechheit dieses
bankerotten kleinen Staates, der nicht einmal die Wucherzinsen seiner Gläubiger
bezahlt und nun sich obendrein herausnimmt, dem „einmütiger" Willen der Gro߬
mächte zu trotzen, ein Verfahren, das schleunige und exemplarische Züchtigung
verdient, damit der verletzte Rechtszustand und die geringgeschätzte Autorität der
Großmächte wiederhergestellt werde. Gemach, ihr Herren! Daß ein Bruch des
formellen Völkerrechts vorliegt, kann niemand leugnen, denn jede Revolution
ist ein Bruch des Rechts und kaun ihre innere, höhere Berechtigung nur durch


Grenzboten I 1897 47
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[0377] [Abbildung] Kreta le Zeit ist längst vorbei, wo der deutsche Philister ein Biertisch und bei der Pfeife behaglich sagen konnte: Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten weit in der Türkei Die Völker auf einander schlagen. Heute fühlt auch der deutsche Bürger, daß ihn dergleichen recht viel angeht, daß ihm ein Brand im Südosten unter Umständen recht unbequem werden und das eigne Haus versengen kann. Nur zeigt die deutsche Presse wieder einmal in ihrer Hauptmasse ein merk¬ würdig geringes Verständnis für den Charakter der Ereignisse auf und um Kreta. Sie stellt sich einfach auf den Standpunkt des formalen Rechts. Die Kreter haben sich gegen ihren legitimen Herrn, den Sultan, erhoben, die griechische Regierung unterstützt die Aufständischen, indem sie mit gröbster Verletzung des Völkerrechts Schiffe und Truppen nach der Insel sendet, also unzweifelhaft feindliche Handlungen gegen eine von ganz Europa anerkannte Regierung ausübt und nicht nur den Anspruch erhebt, sondern im vollen Zuge ist, ihn durchzuführen, nämlich das Land unter ihren Schutz zu nehmen. Das ist nicht nur ein Rechtsbruch, sondern auch eine unerträgliche Frechheit dieses bankerotten kleinen Staates, der nicht einmal die Wucherzinsen seiner Gläubiger bezahlt und nun sich obendrein herausnimmt, dem „einmütiger" Willen der Gro߬ mächte zu trotzen, ein Verfahren, das schleunige und exemplarische Züchtigung verdient, damit der verletzte Rechtszustand und die geringgeschätzte Autorität der Großmächte wiederhergestellt werde. Gemach, ihr Herren! Daß ein Bruch des formellen Völkerrechts vorliegt, kann niemand leugnen, denn jede Revolution ist ein Bruch des Rechts und kaun ihre innere, höhere Berechtigung nur durch Grenzboten I 1897 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/377>, abgerufen am 01.05.2024.