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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Aunstgennß des Laien

bcmcrs, ein vortrefflicher Knabe, war darunter. Ich wurde von den Eltern
zum Mittagessen eingeladen und hatte da wunderliche Tischnachbarn: rechts
einen alten freigeistigen Demvkrate", links eine wttrttembergische Pietistin in
nonnenhaften Gewände; sie saßen einander gegenüber. Der alte B. schleuderte
von Zeit zu Zeit grimmige und höhnische Blicke über den Tisch und Be-
merkungen wie: "wenn ich Regierung wär, ich verkaufte alle Kirchen ans den
Abbruch"; die Dame aber antwortete mit Seufzern und himmelwärts gerichteten
Geberden.




Der Kunstgenuß des Laien
Wolfgang von Gettingen von

ern Friedrich Schiller Recht hat -- und merkwürdig! er behält
desto unbedingter Recht, je tiefer man ihn begreift --, so stehen
wir Menschen zwar an Fleiß und Geschicklichkeit manchen unter¬
geordneten Geschöpfen, an Wissen den (hypothetischen) vvrge-
zogneu Geistern nach: die Kunst aber haben wir allein, und
durch sie, die uns "das Morgenthor des Schönen" öffnet, dringen wir in der
Erkenntnis Land, gelangen wir sittlich geläutert zur Wahrheit, soweit es uns
beschieden ist, sie aufzufassen. So bezeichnet der künstlerisch empfindende Philo¬
soph das Ziel, nach dem zu streben dem regen Geiste vornehmster Lebenszweck
ist, ja das ihm das Leben unter Umständen überhaupt erst oder noch lebens¬
wert macht; und so wird meh Schiller die Kunst sür jeden, der mit wachen
Sinnen und mit Feuer im Herzen seiue irdischen Tage auskostet, ein Lebens¬
element, eine notwendige Nahrung, ohne die er verkümmern müßte.

Aber freilich! wie wenige von uns verkümmern, genau genommen, nicht,
wie wenigen ist es vergönnt, den Umkreis der Erkenntnisse und Gefühle völlig
zu durchmessen, der ihnen nach ihrer Aufnahmefähigkeit offen stünde! Nicht
eigentlich äußere Bedingungen vermögen uus daran zu verhindern, denn dem
wahrhaft Starken sind auch widrige Verhältnisse nicht auf die Dauer unüber¬
windlich. Was uns lahmt, ist vielmehr die arge und eigentliche Erbsünde,
die Krankheit, die dem Menschen durch seine Zusammensetzung aus viel Stoff
und wenig Geist erwächst: die Trägheit dieses so vielfach gehemmten Geistes,
die wir nur in seltnen, glücklichen Augenblicken von Grund aus zu bannen im¬
stande sind. Solche Augenblicke erzeugen dann durch ihre frei schaffende Kraft
die großen und guten Thaten, die ans Erden geschehen; sie sind es auch,


Grenzboten I 1897 5"
Der Aunstgennß des Laien

bcmcrs, ein vortrefflicher Knabe, war darunter. Ich wurde von den Eltern
zum Mittagessen eingeladen und hatte da wunderliche Tischnachbarn: rechts
einen alten freigeistigen Demvkrate», links eine wttrttembergische Pietistin in
nonnenhaften Gewände; sie saßen einander gegenüber. Der alte B. schleuderte
von Zeit zu Zeit grimmige und höhnische Blicke über den Tisch und Be-
merkungen wie: „wenn ich Regierung wär, ich verkaufte alle Kirchen ans den
Abbruch"; die Dame aber antwortete mit Seufzern und himmelwärts gerichteten
Geberden.




Der Kunstgenuß des Laien
Wolfgang von Gettingen von

ern Friedrich Schiller Recht hat — und merkwürdig! er behält
desto unbedingter Recht, je tiefer man ihn begreift —, so stehen
wir Menschen zwar an Fleiß und Geschicklichkeit manchen unter¬
geordneten Geschöpfen, an Wissen den (hypothetischen) vvrge-
zogneu Geistern nach: die Kunst aber haben wir allein, und
durch sie, die uns „das Morgenthor des Schönen" öffnet, dringen wir in der
Erkenntnis Land, gelangen wir sittlich geläutert zur Wahrheit, soweit es uns
beschieden ist, sie aufzufassen. So bezeichnet der künstlerisch empfindende Philo¬
soph das Ziel, nach dem zu streben dem regen Geiste vornehmster Lebenszweck
ist, ja das ihm das Leben unter Umständen überhaupt erst oder noch lebens¬
wert macht; und so wird meh Schiller die Kunst sür jeden, der mit wachen
Sinnen und mit Feuer im Herzen seiue irdischen Tage auskostet, ein Lebens¬
element, eine notwendige Nahrung, ohne die er verkümmern müßte.

Aber freilich! wie wenige von uns verkümmern, genau genommen, nicht,
wie wenigen ist es vergönnt, den Umkreis der Erkenntnisse und Gefühle völlig
zu durchmessen, der ihnen nach ihrer Aufnahmefähigkeit offen stünde! Nicht
eigentlich äußere Bedingungen vermögen uus daran zu verhindern, denn dem
wahrhaft Starken sind auch widrige Verhältnisse nicht auf die Dauer unüber¬
windlich. Was uns lahmt, ist vielmehr die arge und eigentliche Erbsünde,
die Krankheit, die dem Menschen durch seine Zusammensetzung aus viel Stoff
und wenig Geist erwächst: die Trägheit dieses so vielfach gehemmten Geistes,
die wir nur in seltnen, glücklichen Augenblicken von Grund aus zu bannen im¬
stande sind. Solche Augenblicke erzeugen dann durch ihre frei schaffende Kraft
die großen und guten Thaten, die ans Erden geschehen; sie sind es auch,


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[0401] Der Aunstgennß des Laien bcmcrs, ein vortrefflicher Knabe, war darunter. Ich wurde von den Eltern zum Mittagessen eingeladen und hatte da wunderliche Tischnachbarn: rechts einen alten freigeistigen Demvkrate», links eine wttrttembergische Pietistin in nonnenhaften Gewände; sie saßen einander gegenüber. Der alte B. schleuderte von Zeit zu Zeit grimmige und höhnische Blicke über den Tisch und Be- merkungen wie: „wenn ich Regierung wär, ich verkaufte alle Kirchen ans den Abbruch"; die Dame aber antwortete mit Seufzern und himmelwärts gerichteten Geberden. Der Kunstgenuß des Laien Wolfgang von Gettingen von ern Friedrich Schiller Recht hat — und merkwürdig! er behält desto unbedingter Recht, je tiefer man ihn begreift —, so stehen wir Menschen zwar an Fleiß und Geschicklichkeit manchen unter¬ geordneten Geschöpfen, an Wissen den (hypothetischen) vvrge- zogneu Geistern nach: die Kunst aber haben wir allein, und durch sie, die uns „das Morgenthor des Schönen" öffnet, dringen wir in der Erkenntnis Land, gelangen wir sittlich geläutert zur Wahrheit, soweit es uns beschieden ist, sie aufzufassen. So bezeichnet der künstlerisch empfindende Philo¬ soph das Ziel, nach dem zu streben dem regen Geiste vornehmster Lebenszweck ist, ja das ihm das Leben unter Umständen überhaupt erst oder noch lebens¬ wert macht; und so wird meh Schiller die Kunst sür jeden, der mit wachen Sinnen und mit Feuer im Herzen seiue irdischen Tage auskostet, ein Lebens¬ element, eine notwendige Nahrung, ohne die er verkümmern müßte. Aber freilich! wie wenige von uns verkümmern, genau genommen, nicht, wie wenigen ist es vergönnt, den Umkreis der Erkenntnisse und Gefühle völlig zu durchmessen, der ihnen nach ihrer Aufnahmefähigkeit offen stünde! Nicht eigentlich äußere Bedingungen vermögen uus daran zu verhindern, denn dem wahrhaft Starken sind auch widrige Verhältnisse nicht auf die Dauer unüber¬ windlich. Was uns lahmt, ist vielmehr die arge und eigentliche Erbsünde, die Krankheit, die dem Menschen durch seine Zusammensetzung aus viel Stoff und wenig Geist erwächst: die Trägheit dieses so vielfach gehemmten Geistes, die wir nur in seltnen, glücklichen Augenblicken von Grund aus zu bannen im¬ stande sind. Solche Augenblicke erzeugen dann durch ihre frei schaffende Kraft die großen und guten Thaten, die ans Erden geschehen; sie sind es auch, Grenzboten I 1897 5»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/401>, abgerufen am 30.04.2024.