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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Griechenland und Kreta

s kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Besitz¬
verhältnisse der Balkanhalbinsel einer wichtigen Veränderung ent¬
gegengehen. Die Besetzung Kretas durch die europäischen Gro߬
mächte ist das Vorspiel zu der längst ersehnten großer" oder ge¬
ringern Autonomie der Insel und einer daraus hervorgehenden
Abtrennung von der Türkei. Von einer Vereinigung mit Griechenland scheint
wenigstens vorläufig nicht die Rede zu sein. Je widersprechender aber die Ur¬
teile sind, die man jetzt über die Stellung der Großmächte und besonders
Deutschlands hört, je größer die Unkenntnis ist, der man in weiten Kreisen
über die Zustände und Vorgänge in Griechenland und auf Kreta begegnet, um
so gerechtfertigter dürfte es sein, auf die jüngsten politischen Vorgänge auf
Kreta einen kurzen, zusammenfassenden Rückblick zu werfen.

Der springende Punkt bei den kretischen Aufständen der letzten zwanzig
Jahre, also auch bei dem des vorigen Jahres, der jetzt fortgesetzt wird, ist der,
daß die Konvention von Haleppa von der Pforte nicht eingehalten worden ist.
Dieser Vertrag, der am 15. Oktober 1878 von Ghazi Mukhtar Pascha und
den Mitgliedern des griechischen Komitees abgeschlossen wurde, bestimmte in
seinen Hauptpunkten: 1. Annahme der im Jahre 1876 beantragten Abände¬
rung des organischen Statuts von Kreta; 2. Ernennung eines christlichen Gou¬
verneurs und Bestätigung durch die Großmächte ans fünf Jahre, auch Wieder-
erwählung auf weitere fünf Jahre, wenn er die Stimmenmehrheit der Ein¬
wohner für sich habe; 3. Beschränkung der türkischen Garnisonen auf die be¬
festigten Plätze; 4. Überweisung der Hälfte der Nettoeinnahmen der Insel an
die Staatskasse und Verwendung der andern Hälfte für öffentliche Arbeiten
auf der Insel; 5. Ernennung von Friedensrichtern; ö. Kenntnis der griechischen


Grenzboten I 18!17 5")


Griechenland und Kreta

s kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Besitz¬
verhältnisse der Balkanhalbinsel einer wichtigen Veränderung ent¬
gegengehen. Die Besetzung Kretas durch die europäischen Gro߬
mächte ist das Vorspiel zu der längst ersehnten großer» oder ge¬
ringern Autonomie der Insel und einer daraus hervorgehenden
Abtrennung von der Türkei. Von einer Vereinigung mit Griechenland scheint
wenigstens vorläufig nicht die Rede zu sein. Je widersprechender aber die Ur¬
teile sind, die man jetzt über die Stellung der Großmächte und besonders
Deutschlands hört, je größer die Unkenntnis ist, der man in weiten Kreisen
über die Zustände und Vorgänge in Griechenland und auf Kreta begegnet, um
so gerechtfertigter dürfte es sein, auf die jüngsten politischen Vorgänge auf
Kreta einen kurzen, zusammenfassenden Rückblick zu werfen.

Der springende Punkt bei den kretischen Aufständen der letzten zwanzig
Jahre, also auch bei dem des vorigen Jahres, der jetzt fortgesetzt wird, ist der,
daß die Konvention von Haleppa von der Pforte nicht eingehalten worden ist.
Dieser Vertrag, der am 15. Oktober 1878 von Ghazi Mukhtar Pascha und
den Mitgliedern des griechischen Komitees abgeschlossen wurde, bestimmte in
seinen Hauptpunkten: 1. Annahme der im Jahre 1876 beantragten Abände¬
rung des organischen Statuts von Kreta; 2. Ernennung eines christlichen Gou¬
verneurs und Bestätigung durch die Großmächte ans fünf Jahre, auch Wieder-
erwählung auf weitere fünf Jahre, wenn er die Stimmenmehrheit der Ein¬
wohner für sich habe; 3. Beschränkung der türkischen Garnisonen auf die be¬
festigten Plätze; 4. Überweisung der Hälfte der Nettoeinnahmen der Insel an
die Staatskasse und Verwendung der andern Hälfte für öffentliche Arbeiten
auf der Insel; 5. Ernennung von Friedensrichtern; ö. Kenntnis der griechischen


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[0473] [Abbildung] Griechenland und Kreta s kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Besitz¬ verhältnisse der Balkanhalbinsel einer wichtigen Veränderung ent¬ gegengehen. Die Besetzung Kretas durch die europäischen Gro߬ mächte ist das Vorspiel zu der längst ersehnten großer» oder ge¬ ringern Autonomie der Insel und einer daraus hervorgehenden Abtrennung von der Türkei. Von einer Vereinigung mit Griechenland scheint wenigstens vorläufig nicht die Rede zu sein. Je widersprechender aber die Ur¬ teile sind, die man jetzt über die Stellung der Großmächte und besonders Deutschlands hört, je größer die Unkenntnis ist, der man in weiten Kreisen über die Zustände und Vorgänge in Griechenland und auf Kreta begegnet, um so gerechtfertigter dürfte es sein, auf die jüngsten politischen Vorgänge auf Kreta einen kurzen, zusammenfassenden Rückblick zu werfen. Der springende Punkt bei den kretischen Aufständen der letzten zwanzig Jahre, also auch bei dem des vorigen Jahres, der jetzt fortgesetzt wird, ist der, daß die Konvention von Haleppa von der Pforte nicht eingehalten worden ist. Dieser Vertrag, der am 15. Oktober 1878 von Ghazi Mukhtar Pascha und den Mitgliedern des griechischen Komitees abgeschlossen wurde, bestimmte in seinen Hauptpunkten: 1. Annahme der im Jahre 1876 beantragten Abände¬ rung des organischen Statuts von Kreta; 2. Ernennung eines christlichen Gou¬ verneurs und Bestätigung durch die Großmächte ans fünf Jahre, auch Wieder- erwählung auf weitere fünf Jahre, wenn er die Stimmenmehrheit der Ein¬ wohner für sich habe; 3. Beschränkung der türkischen Garnisonen auf die be¬ festigten Plätze; 4. Überweisung der Hälfte der Nettoeinnahmen der Insel an die Staatskasse und Verwendung der andern Hälfte für öffentliche Arbeiten auf der Insel; 5. Ernennung von Friedensrichtern; ö. Kenntnis der griechischen Grenzboten I 18!17 5«)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/473>, abgerufen am 01.05.2024.