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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt

er nicht in dem innersten Heiligtum der zünftigen Diplomatie sitzt,
der wird der Orientpolitik wie jeder andern gegenüber ein "Laie"
heißen müssen. Ja selbst wenn er dort süße! Ist er nicht
gerade der Geist, der, wie vor Zeiten Fürst Bismarck, nicht bloß
die Geschicke des eignen Landes, sondern auch die der andern
"Mächte" bestimmt, so kann es wohl geschehen, daß er die Dinge mit noch
weniger freiem Blicke sieht als mancher "außen" stehende Laie, der sich un¬
befangen seinen im Strom der Welt erworbnen Erfahrungen hingeben darf.

Wie stellt sich um dem Laienauge die Orientalpolitik dar? Ist es wirklich
wahr, daß der Ausbruch des Kriegs auf der Balkanhalbinsel die Schuld der "sechs
Ohnmächte" ist? Giebt es gar keine andre Erklärung als die "Impotenz der
Mächte" für die sonderbaren Dinge, die sich vor unsern erstaunten Augen ab¬
spielen, und die wir Völker -- sicherlich zum Ergötzen der zünftigen Diplo¬
maten -- uns zurechtlegen, als ob sie durch die unwiderstehliche vis iuertmö
der Verhältnisse, nicht aber durch gewolltes Menschenwerk, dnrch planmäßige
Züge und Gegenzüge auf dem Schachbrete der Politik entstanden wären?

Fragt man sich, welche "Mächte" denn das größte Interesse dort hinten
weit in der Türkei haben, so geben Diplomaten wie Laien, Zeitungsschreiber
wie Zeitungsleser einstimmig dieselbe Antwort: das sind in erster Linie Ru߬
land und England, dann folgen Frankreich, Österreich und Italien, schließlich
in weiteren Abstände Deutschland, Amerika und tutti auanti. Hier sind wir
also auf festem Boden: in erster Linie stehen Rußland und England. Ein
Blick in die Geschichte und auf die Karte erklärt das mit voller Deutlichkeit.
Nußland rückt an den Grenzen seines gewaltigen Reichs mit wunderbarer
Geschicklichkeit vor, und jeder Schritt seines Vorrückens bedeutet einen Eingriff
in die weltumspannende Macht Englands. Denn es ist kein Zweifel mehr:


Grenzboten II 18S7 27


Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt

er nicht in dem innersten Heiligtum der zünftigen Diplomatie sitzt,
der wird der Orientpolitik wie jeder andern gegenüber ein „Laie"
heißen müssen. Ja selbst wenn er dort süße! Ist er nicht
gerade der Geist, der, wie vor Zeiten Fürst Bismarck, nicht bloß
die Geschicke des eignen Landes, sondern auch die der andern
„Mächte" bestimmt, so kann es wohl geschehen, daß er die Dinge mit noch
weniger freiem Blicke sieht als mancher „außen" stehende Laie, der sich un¬
befangen seinen im Strom der Welt erworbnen Erfahrungen hingeben darf.

Wie stellt sich um dem Laienauge die Orientalpolitik dar? Ist es wirklich
wahr, daß der Ausbruch des Kriegs auf der Balkanhalbinsel die Schuld der „sechs
Ohnmächte" ist? Giebt es gar keine andre Erklärung als die „Impotenz der
Mächte" für die sonderbaren Dinge, die sich vor unsern erstaunten Augen ab¬
spielen, und die wir Völker — sicherlich zum Ergötzen der zünftigen Diplo¬
maten — uns zurechtlegen, als ob sie durch die unwiderstehliche vis iuertmö
der Verhältnisse, nicht aber durch gewolltes Menschenwerk, dnrch planmäßige
Züge und Gegenzüge auf dem Schachbrete der Politik entstanden wären?

Fragt man sich, welche „Mächte" denn das größte Interesse dort hinten
weit in der Türkei haben, so geben Diplomaten wie Laien, Zeitungsschreiber
wie Zeitungsleser einstimmig dieselbe Antwort: das sind in erster Linie Ru߬
land und England, dann folgen Frankreich, Österreich und Italien, schließlich
in weiteren Abstände Deutschland, Amerika und tutti auanti. Hier sind wir
also auf festem Boden: in erster Linie stehen Rußland und England. Ein
Blick in die Geschichte und auf die Karte erklärt das mit voller Deutlichkeit.
Nußland rückt an den Grenzen seines gewaltigen Reichs mit wunderbarer
Geschicklichkeit vor, und jeder Schritt seines Vorrückens bedeutet einen Eingriff
in die weltumspannende Macht Englands. Denn es ist kein Zweifel mehr:


Grenzboten II 18S7 27
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[0217] [Abbildung] Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt er nicht in dem innersten Heiligtum der zünftigen Diplomatie sitzt, der wird der Orientpolitik wie jeder andern gegenüber ein „Laie" heißen müssen. Ja selbst wenn er dort süße! Ist er nicht gerade der Geist, der, wie vor Zeiten Fürst Bismarck, nicht bloß die Geschicke des eignen Landes, sondern auch die der andern „Mächte" bestimmt, so kann es wohl geschehen, daß er die Dinge mit noch weniger freiem Blicke sieht als mancher „außen" stehende Laie, der sich un¬ befangen seinen im Strom der Welt erworbnen Erfahrungen hingeben darf. Wie stellt sich um dem Laienauge die Orientalpolitik dar? Ist es wirklich wahr, daß der Ausbruch des Kriegs auf der Balkanhalbinsel die Schuld der „sechs Ohnmächte" ist? Giebt es gar keine andre Erklärung als die „Impotenz der Mächte" für die sonderbaren Dinge, die sich vor unsern erstaunten Augen ab¬ spielen, und die wir Völker — sicherlich zum Ergötzen der zünftigen Diplo¬ maten — uns zurechtlegen, als ob sie durch die unwiderstehliche vis iuertmö der Verhältnisse, nicht aber durch gewolltes Menschenwerk, dnrch planmäßige Züge und Gegenzüge auf dem Schachbrete der Politik entstanden wären? Fragt man sich, welche „Mächte" denn das größte Interesse dort hinten weit in der Türkei haben, so geben Diplomaten wie Laien, Zeitungsschreiber wie Zeitungsleser einstimmig dieselbe Antwort: das sind in erster Linie Ru߬ land und England, dann folgen Frankreich, Österreich und Italien, schließlich in weiteren Abstände Deutschland, Amerika und tutti auanti. Hier sind wir also auf festem Boden: in erster Linie stehen Rußland und England. Ein Blick in die Geschichte und auf die Karte erklärt das mit voller Deutlichkeit. Nußland rückt an den Grenzen seines gewaltigen Reichs mit wunderbarer Geschicklichkeit vor, und jeder Schritt seines Vorrückens bedeutet einen Eingriff in die weltumspannende Macht Englands. Denn es ist kein Zweifel mehr: Grenzboten II 18S7 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/217>, abgerufen am 06.05.2024.