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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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neben das meerbeherrschende Albion tritt mit Riesenschritten Rußland als zweite
eigentliche "Weltmacht." Was das besagen will, darauf hat man sich in Eng¬
land mit großer Unruhe und Sorge besonnen. Ja man hat allem Krämergeist
zum Trotz, der schon in Fleisch und Blut übergegangnen Neigung zuwider, alle
Vorteile mit möglichst geringen Mitteln durch geschickte Benutzung der "Kon¬
junktur," durch Benachteiligung des unerfahrnen Kunden, durch schlaue Handels¬
kniffe zu erreichen, mit großer Thatkraft und Opferwilligkeit den Ausbau
der Flotte in einem ganz außerordentlichen Umfange bewilligt. In Jahres¬
frist kann England, wenn es sie zu bemannen imstande ist, mit einer Flotte auf
den Meeren erscheinen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Und wenn
es not thun sollte, so kann diese Macht in kürzester Zeit noch verdoppelt, ver¬
dreifacht werden -- ein Aufgebot von Kraft und Drohung, das der richtigen
Erkenntnis entspringt, daß mit ihm Englands stolze Macht steht und fällt.
Wohin sich immer der Blick wendet auf der Erdkugel: es giebt keinen Winkel,
in dein seine Interessen nicht bedroht wären, ja auf dem Spiele stünden.
Australien kann jeden Augenblick den Entschluß fassen, sich unabhängig zu
machen. In Indien stand Englands Herrschaft zu keiner Zeit so unsicher
da wie jetzt, wo Rußland an seine Thore pocht, wäre es auch nur, um das
Gefühl dieser Unsicherheit wachzuhalten. In Südafrika bereiten sich Ereig¬
nisse vor, die auf den Unabhüngigkeitskcimpf der Buren gegen die englischen
Ausbeuter hinauslaufen. Kanada hat einen sehr mächtigen Freund in den
Vereinigten Staaten, die ihre großen Arme nur auszubreiten brauchen, um es
freundschaftlichst an das stammverwandte Herz zu drücken. Dazu kommt, daß
ans der ganzen Welt das Übergewicht des englischen Handels bekämpft und
an vielen Stellen endgiltig besiegt wird, und ferner, daß sich, wie einst im
Mittelalter, der Mittelpunkt des weltbewegenden Handels wieder nach dem Osten
verschiebt. Mit der Entdeckung Amerikas begann der Zug uach dem Westen:
er hat sein Ende erreicht, und die Bewegung flutet zurück. Seitdem yabeu
sich die reichen Gebiete, die lange dem europäischen und vor allem dem englischen
Handel und seiner Kultur dienstbar waren, zu selbständigen Staatsmesen ent¬
wickelt. Es fehlt nicht an Zeichen, daß diese Staaten sogar in dem alten Stamm¬
geschäftshause Europa ihrem Willen Geltung verschaffen werden. Das Über¬
gewicht des Wasserwegs über den Landweg ist seit der Ausdehnung der Eisen¬
bahnen über das ganze Festland nicht mehr so ungeheuer wie einst. Und deshalb
muß England nicht bloß "des freien Seewegs nach Indien wegen" daran
denken, das Mittelmeer sich -- und zwar sich allein -- dienstbar zu machen,
sondern weil das eine britische Lebensfrage überhaupt ist. Ein gewaltiger
Versuch, die Welt zu beherrschen, nicht vom Mutterlande, sondern von einer
Gruppe vorgeschobner Posten ans, die, mit äußerster Anstrengung wchrbar
gemacht, die Stützpunkte seiner Macht bilden! England weiß, daß es seine
schwindende Seemacht nur dann aufrecht erhalten kann, wenn es das Mittel-


neben das meerbeherrschende Albion tritt mit Riesenschritten Rußland als zweite
eigentliche „Weltmacht." Was das besagen will, darauf hat man sich in Eng¬
land mit großer Unruhe und Sorge besonnen. Ja man hat allem Krämergeist
zum Trotz, der schon in Fleisch und Blut übergegangnen Neigung zuwider, alle
Vorteile mit möglichst geringen Mitteln durch geschickte Benutzung der „Kon¬
junktur," durch Benachteiligung des unerfahrnen Kunden, durch schlaue Handels¬
kniffe zu erreichen, mit großer Thatkraft und Opferwilligkeit den Ausbau
der Flotte in einem ganz außerordentlichen Umfange bewilligt. In Jahres¬
frist kann England, wenn es sie zu bemannen imstande ist, mit einer Flotte auf
den Meeren erscheinen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Und wenn
es not thun sollte, so kann diese Macht in kürzester Zeit noch verdoppelt, ver¬
dreifacht werden — ein Aufgebot von Kraft und Drohung, das der richtigen
Erkenntnis entspringt, daß mit ihm Englands stolze Macht steht und fällt.
Wohin sich immer der Blick wendet auf der Erdkugel: es giebt keinen Winkel,
in dein seine Interessen nicht bedroht wären, ja auf dem Spiele stünden.
Australien kann jeden Augenblick den Entschluß fassen, sich unabhängig zu
machen. In Indien stand Englands Herrschaft zu keiner Zeit so unsicher
da wie jetzt, wo Rußland an seine Thore pocht, wäre es auch nur, um das
Gefühl dieser Unsicherheit wachzuhalten. In Südafrika bereiten sich Ereig¬
nisse vor, die auf den Unabhüngigkeitskcimpf der Buren gegen die englischen
Ausbeuter hinauslaufen. Kanada hat einen sehr mächtigen Freund in den
Vereinigten Staaten, die ihre großen Arme nur auszubreiten brauchen, um es
freundschaftlichst an das stammverwandte Herz zu drücken. Dazu kommt, daß
ans der ganzen Welt das Übergewicht des englischen Handels bekämpft und
an vielen Stellen endgiltig besiegt wird, und ferner, daß sich, wie einst im
Mittelalter, der Mittelpunkt des weltbewegenden Handels wieder nach dem Osten
verschiebt. Mit der Entdeckung Amerikas begann der Zug uach dem Westen:
er hat sein Ende erreicht, und die Bewegung flutet zurück. Seitdem yabeu
sich die reichen Gebiete, die lange dem europäischen und vor allem dem englischen
Handel und seiner Kultur dienstbar waren, zu selbständigen Staatsmesen ent¬
wickelt. Es fehlt nicht an Zeichen, daß diese Staaten sogar in dem alten Stamm¬
geschäftshause Europa ihrem Willen Geltung verschaffen werden. Das Über¬
gewicht des Wasserwegs über den Landweg ist seit der Ausdehnung der Eisen¬
bahnen über das ganze Festland nicht mehr so ungeheuer wie einst. Und deshalb
muß England nicht bloß „des freien Seewegs nach Indien wegen" daran
denken, das Mittelmeer sich — und zwar sich allein — dienstbar zu machen,
sondern weil das eine britische Lebensfrage überhaupt ist. Ein gewaltiger
Versuch, die Welt zu beherrschen, nicht vom Mutterlande, sondern von einer
Gruppe vorgeschobner Posten ans, die, mit äußerster Anstrengung wchrbar
gemacht, die Stützpunkte seiner Macht bilden! England weiß, daß es seine
schwindende Seemacht nur dann aufrecht erhalten kann, wenn es das Mittel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/218>, abgerufen am 28.05.2024.