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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel
Heinrich Schnrtz von (in
(Schluß)

ehr mit Unrecht hat man die Seelenwanderung für eine besondre
Eigentümlichkeit des indischen Religionssystems erklärt; in Wirk¬
lichkeit fehlt diese Anschauung keinem Volke der Erde. Auf keinem
Gebiete der Vorstellung hat die menschliche Phantasie so früh
und so üppig gewundert wie auf diesem, und die verschiedensten
Ideen, die sich an und für sich gegenseitig ausschließen müßten, erscheinen
nebeneinander, allenfalls notdürftig gerechtfertigt durch die weitere Annahme,
daß die Seele nach dem Tode in mehrere Teile zerfalle, die nun ein verschiednes
Schicksal haben; während ein Teil in den Nachkommen fortlebt, wohnt vielleicht
ein andrer in dem Ahnenbilde, das dem Verstorbnen errichtet wird, ein dritter
wandert nach dem Totenreichc, ein vierter treibt sich gespenstisch in der Nähe
der alten Wohnstätte herum. Vor allem aber ist die Verwandlung in Tiere
beliebt, nicht nur bei den jetzigen Naturvölkern, sondern auch bei unsern Vor¬
fahren; neben höher entwickelten Anschauungen über das Schicksal der Seele,
neben dem Glauben an die Wonnen Walhallas oder die Schrecken des Reiches
der bleichen Hel haben sich die Ideen der Seelenwanderung mit merkwürdiger
Zähigkeit behauptet. Noch heute sieht der abergläubische Tiroler in deu Kröten
arme Seelen und hütet sich, sie zu verletze"; in dem Märchen vom Machandel-
bnum wird der ermordete Knabe zum Vogel und rächt seinen Tod, und die
von dem grausamen Bischof Hatto Verbrannten armen Leute verwandeln sich
in Mäuse, die nun ihren Peiniger verfolgen und töten. Was bei uns nnr
in Nachklängen erhalten ist, steht anderwärts noch in voller Blüte: der Be¬
wohner des indischen Archipels sieht in den Krokodilen, der Melanesier in den
Haifischen die Seelen seiner Vorfahren, und nur im Notfall, allenfalls um
eine besondre Schandthat dieser lieben Verwandten zu bestrafen, entschließt man
sich, sie zu töte". Anderswo sind es die Schlangen, in denen man die Seelen
der Verstorbnen vermutet; Reste dieser Vorstellung sind auch bei uus noch
zahlreich erhalten. Selbst eine Spur des vollständigen Kreislaufs der Seelen-
wanderung haben wir in der altbekannten, anscheinend so kindischen Erzählung




Die Tierfabel
Heinrich Schnrtz von (in
(Schluß)

ehr mit Unrecht hat man die Seelenwanderung für eine besondre
Eigentümlichkeit des indischen Religionssystems erklärt; in Wirk¬
lichkeit fehlt diese Anschauung keinem Volke der Erde. Auf keinem
Gebiete der Vorstellung hat die menschliche Phantasie so früh
und so üppig gewundert wie auf diesem, und die verschiedensten
Ideen, die sich an und für sich gegenseitig ausschließen müßten, erscheinen
nebeneinander, allenfalls notdürftig gerechtfertigt durch die weitere Annahme,
daß die Seele nach dem Tode in mehrere Teile zerfalle, die nun ein verschiednes
Schicksal haben; während ein Teil in den Nachkommen fortlebt, wohnt vielleicht
ein andrer in dem Ahnenbilde, das dem Verstorbnen errichtet wird, ein dritter
wandert nach dem Totenreichc, ein vierter treibt sich gespenstisch in der Nähe
der alten Wohnstätte herum. Vor allem aber ist die Verwandlung in Tiere
beliebt, nicht nur bei den jetzigen Naturvölkern, sondern auch bei unsern Vor¬
fahren; neben höher entwickelten Anschauungen über das Schicksal der Seele,
neben dem Glauben an die Wonnen Walhallas oder die Schrecken des Reiches
der bleichen Hel haben sich die Ideen der Seelenwanderung mit merkwürdiger
Zähigkeit behauptet. Noch heute sieht der abergläubische Tiroler in deu Kröten
arme Seelen und hütet sich, sie zu verletze»; in dem Märchen vom Machandel-
bnum wird der ermordete Knabe zum Vogel und rächt seinen Tod, und die
von dem grausamen Bischof Hatto Verbrannten armen Leute verwandeln sich
in Mäuse, die nun ihren Peiniger verfolgen und töten. Was bei uns nnr
in Nachklängen erhalten ist, steht anderwärts noch in voller Blüte: der Be¬
wohner des indischen Archipels sieht in den Krokodilen, der Melanesier in den
Haifischen die Seelen seiner Vorfahren, und nur im Notfall, allenfalls um
eine besondre Schandthat dieser lieben Verwandten zu bestrafen, entschließt man
sich, sie zu töte». Anderswo sind es die Schlangen, in denen man die Seelen
der Verstorbnen vermutet; Reste dieser Vorstellung sind auch bei uus noch
zahlreich erhalten. Selbst eine Spur des vollständigen Kreislaufs der Seelen-
wanderung haben wir in der altbekannten, anscheinend so kindischen Erzählung


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[0477] [Abbildung] Die Tierfabel Heinrich Schnrtz von (in (Schluß) ehr mit Unrecht hat man die Seelenwanderung für eine besondre Eigentümlichkeit des indischen Religionssystems erklärt; in Wirk¬ lichkeit fehlt diese Anschauung keinem Volke der Erde. Auf keinem Gebiete der Vorstellung hat die menschliche Phantasie so früh und so üppig gewundert wie auf diesem, und die verschiedensten Ideen, die sich an und für sich gegenseitig ausschließen müßten, erscheinen nebeneinander, allenfalls notdürftig gerechtfertigt durch die weitere Annahme, daß die Seele nach dem Tode in mehrere Teile zerfalle, die nun ein verschiednes Schicksal haben; während ein Teil in den Nachkommen fortlebt, wohnt vielleicht ein andrer in dem Ahnenbilde, das dem Verstorbnen errichtet wird, ein dritter wandert nach dem Totenreichc, ein vierter treibt sich gespenstisch in der Nähe der alten Wohnstätte herum. Vor allem aber ist die Verwandlung in Tiere beliebt, nicht nur bei den jetzigen Naturvölkern, sondern auch bei unsern Vor¬ fahren; neben höher entwickelten Anschauungen über das Schicksal der Seele, neben dem Glauben an die Wonnen Walhallas oder die Schrecken des Reiches der bleichen Hel haben sich die Ideen der Seelenwanderung mit merkwürdiger Zähigkeit behauptet. Noch heute sieht der abergläubische Tiroler in deu Kröten arme Seelen und hütet sich, sie zu verletze»; in dem Märchen vom Machandel- bnum wird der ermordete Knabe zum Vogel und rächt seinen Tod, und die von dem grausamen Bischof Hatto Verbrannten armen Leute verwandeln sich in Mäuse, die nun ihren Peiniger verfolgen und töten. Was bei uns nnr in Nachklängen erhalten ist, steht anderwärts noch in voller Blüte: der Be¬ wohner des indischen Archipels sieht in den Krokodilen, der Melanesier in den Haifischen die Seelen seiner Vorfahren, und nur im Notfall, allenfalls um eine besondre Schandthat dieser lieben Verwandten zu bestrafen, entschließt man sich, sie zu töte». Anderswo sind es die Schlangen, in denen man die Seelen der Verstorbnen vermutet; Reste dieser Vorstellung sind auch bei uus noch zahlreich erhalten. Selbst eine Spur des vollständigen Kreislaufs der Seelen- wanderung haben wir in der altbekannten, anscheinend so kindischen Erzählung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/477>, abgerufen am 06.05.2024.