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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

vom Storch, der die Kinder oder vielmehr die Seelen aus dem Teiche oder
Brunnen holt, wo sie offenbar in Tiergestalt verweilen und der Wiedergeburt
harren.

In festere Formen werden diese Anschauungen durch den sogenannten
Totemismus gebracht. Da man diese merkwürdige Organisationsform zuerst
bei dem Jndianerstamm der Irokesen wahrgenommen hat, so hat sie ihren
Namen von dem irokesischen Worte Totem, das so viel wie Wappen- oder
Geschlechtstier bedeutet, erhalten. Allmählich aber hat sich herausgestellt, daß
sich der Totemismus auf der ganzen Erde findet und vielleicht keinem Volke
-- auch unsern Vorfahren nicht -- völlig fremd geblieben ist. Das ist um
so merkwürdiger, als es sich hier durchaus nicht um einen bloßen Tierkultus
handelt, sondern um eine eigentümliche Familien- und Stammesorganisation,
die eng mit mutterrechtlichen Ideen verknüpft ist.

Ein Stamm, der totemistischen Anschauungen huldigt, zerfällt in eine
Anzahl mutterrechtlich organisirter Geschlechter, deren jedes ein bestimmtes
Tier (ausnahmsweise auch eine Pflanze, ein Gestirn und dergleichen) als seinen
Stammvater und sein Symbol verehrt. So nannten sich die irokesischen Ge¬
schlechter nach dem Bären, dem Wolfe, der Schildkröte, dem Biber, dem Reh,
der Schnepfe, dem Reiher und dem Falken; jeder der sogenannten Nationen
oder Stämme, in die das irokesische Volk in politischer Hinsicht zerfiel, ge¬
hörten Familien aus sämtlichen dieser totemistischen Geschlechter an, sodaß
z. B. ein Krieger der Seneca zu den Wölfen oder den Bären, den Bibern
oder den Falken gehören konnte, während sein neben ihm kämpfender Kamerad
und Stammesgenosse vielleicht ein ganz andres Totem verehrte. Diese tote¬
mistischen Geschlechter haben sich offenbar beim Zerfall der Horde in mutter¬
rechtliche Familien erst gebildet, indem diese neue Organisationsform durch die
mit der Seelenwanderung zusammenhängenden Ideen einen festern Halt erhielt;
während sie aber im Innern auseinanderfiel, blieb die Horde nach außen als
politisches Gebilde durchaus lebenskräftig, und so erklärt es sich wohl, wes¬
halb diese anscheinend so merkwürdige und verwickelte Umbildung doch fast bei
allen Völkern der Erde als Übergang zur patriarchalischen Familie wiederkehrt.
Wir finden deutliche Spuren des Totemismus bei den Jsraeliten wie bei den
Ariern, bei zahlreichen Negerstümmen, bei den Australiern und den Indianern,
und wo er zu fehlen scheint, darf man doch vermuten, daß er i" älterer Zeit
bestanden habe. Bei manchen Völkern rückt im Laufe der Entwicklung auf diese
Weise ein Tier in die Reihe der eigentlichen Götter ein und tritt als Welt¬
schöpfer auf, wie der große Hase bei den Indianern, der Rabe bei den Be¬
wohnern der Nordwestküste Amerikas, die Heuschrecke bei den Buschmännern;
andrerseits sinken natürlich manche Geschlechtstiere bei dem allmählichen Er¬
löschen des Totemismus zu bloßen Wappen und Symbolen herab. Wie nun
eine derartige Anschauung, die die Verwandtschaft des Menschen mit der Tier-


Die Tierfabel

vom Storch, der die Kinder oder vielmehr die Seelen aus dem Teiche oder
Brunnen holt, wo sie offenbar in Tiergestalt verweilen und der Wiedergeburt
harren.

In festere Formen werden diese Anschauungen durch den sogenannten
Totemismus gebracht. Da man diese merkwürdige Organisationsform zuerst
bei dem Jndianerstamm der Irokesen wahrgenommen hat, so hat sie ihren
Namen von dem irokesischen Worte Totem, das so viel wie Wappen- oder
Geschlechtstier bedeutet, erhalten. Allmählich aber hat sich herausgestellt, daß
sich der Totemismus auf der ganzen Erde findet und vielleicht keinem Volke
— auch unsern Vorfahren nicht — völlig fremd geblieben ist. Das ist um
so merkwürdiger, als es sich hier durchaus nicht um einen bloßen Tierkultus
handelt, sondern um eine eigentümliche Familien- und Stammesorganisation,
die eng mit mutterrechtlichen Ideen verknüpft ist.

Ein Stamm, der totemistischen Anschauungen huldigt, zerfällt in eine
Anzahl mutterrechtlich organisirter Geschlechter, deren jedes ein bestimmtes
Tier (ausnahmsweise auch eine Pflanze, ein Gestirn und dergleichen) als seinen
Stammvater und sein Symbol verehrt. So nannten sich die irokesischen Ge¬
schlechter nach dem Bären, dem Wolfe, der Schildkröte, dem Biber, dem Reh,
der Schnepfe, dem Reiher und dem Falken; jeder der sogenannten Nationen
oder Stämme, in die das irokesische Volk in politischer Hinsicht zerfiel, ge¬
hörten Familien aus sämtlichen dieser totemistischen Geschlechter an, sodaß
z. B. ein Krieger der Seneca zu den Wölfen oder den Bären, den Bibern
oder den Falken gehören konnte, während sein neben ihm kämpfender Kamerad
und Stammesgenosse vielleicht ein ganz andres Totem verehrte. Diese tote¬
mistischen Geschlechter haben sich offenbar beim Zerfall der Horde in mutter¬
rechtliche Familien erst gebildet, indem diese neue Organisationsform durch die
mit der Seelenwanderung zusammenhängenden Ideen einen festern Halt erhielt;
während sie aber im Innern auseinanderfiel, blieb die Horde nach außen als
politisches Gebilde durchaus lebenskräftig, und so erklärt es sich wohl, wes¬
halb diese anscheinend so merkwürdige und verwickelte Umbildung doch fast bei
allen Völkern der Erde als Übergang zur patriarchalischen Familie wiederkehrt.
Wir finden deutliche Spuren des Totemismus bei den Jsraeliten wie bei den
Ariern, bei zahlreichen Negerstümmen, bei den Australiern und den Indianern,
und wo er zu fehlen scheint, darf man doch vermuten, daß er i» älterer Zeit
bestanden habe. Bei manchen Völkern rückt im Laufe der Entwicklung auf diese
Weise ein Tier in die Reihe der eigentlichen Götter ein und tritt als Welt¬
schöpfer auf, wie der große Hase bei den Indianern, der Rabe bei den Be¬
wohnern der Nordwestküste Amerikas, die Heuschrecke bei den Buschmännern;
andrerseits sinken natürlich manche Geschlechtstiere bei dem allmählichen Er¬
löschen des Totemismus zu bloßen Wappen und Symbolen herab. Wie nun
eine derartige Anschauung, die die Verwandtschaft des Menschen mit der Tier-


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[0478] Die Tierfabel vom Storch, der die Kinder oder vielmehr die Seelen aus dem Teiche oder Brunnen holt, wo sie offenbar in Tiergestalt verweilen und der Wiedergeburt harren. In festere Formen werden diese Anschauungen durch den sogenannten Totemismus gebracht. Da man diese merkwürdige Organisationsform zuerst bei dem Jndianerstamm der Irokesen wahrgenommen hat, so hat sie ihren Namen von dem irokesischen Worte Totem, das so viel wie Wappen- oder Geschlechtstier bedeutet, erhalten. Allmählich aber hat sich herausgestellt, daß sich der Totemismus auf der ganzen Erde findet und vielleicht keinem Volke — auch unsern Vorfahren nicht — völlig fremd geblieben ist. Das ist um so merkwürdiger, als es sich hier durchaus nicht um einen bloßen Tierkultus handelt, sondern um eine eigentümliche Familien- und Stammesorganisation, die eng mit mutterrechtlichen Ideen verknüpft ist. Ein Stamm, der totemistischen Anschauungen huldigt, zerfällt in eine Anzahl mutterrechtlich organisirter Geschlechter, deren jedes ein bestimmtes Tier (ausnahmsweise auch eine Pflanze, ein Gestirn und dergleichen) als seinen Stammvater und sein Symbol verehrt. So nannten sich die irokesischen Ge¬ schlechter nach dem Bären, dem Wolfe, der Schildkröte, dem Biber, dem Reh, der Schnepfe, dem Reiher und dem Falken; jeder der sogenannten Nationen oder Stämme, in die das irokesische Volk in politischer Hinsicht zerfiel, ge¬ hörten Familien aus sämtlichen dieser totemistischen Geschlechter an, sodaß z. B. ein Krieger der Seneca zu den Wölfen oder den Bären, den Bibern oder den Falken gehören konnte, während sein neben ihm kämpfender Kamerad und Stammesgenosse vielleicht ein ganz andres Totem verehrte. Diese tote¬ mistischen Geschlechter haben sich offenbar beim Zerfall der Horde in mutter¬ rechtliche Familien erst gebildet, indem diese neue Organisationsform durch die mit der Seelenwanderung zusammenhängenden Ideen einen festern Halt erhielt; während sie aber im Innern auseinanderfiel, blieb die Horde nach außen als politisches Gebilde durchaus lebenskräftig, und so erklärt es sich wohl, wes¬ halb diese anscheinend so merkwürdige und verwickelte Umbildung doch fast bei allen Völkern der Erde als Übergang zur patriarchalischen Familie wiederkehrt. Wir finden deutliche Spuren des Totemismus bei den Jsraeliten wie bei den Ariern, bei zahlreichen Negerstümmen, bei den Australiern und den Indianern, und wo er zu fehlen scheint, darf man doch vermuten, daß er i» älterer Zeit bestanden habe. Bei manchen Völkern rückt im Laufe der Entwicklung auf diese Weise ein Tier in die Reihe der eigentlichen Götter ein und tritt als Welt¬ schöpfer auf, wie der große Hase bei den Indianern, der Rabe bei den Be¬ wohnern der Nordwestküste Amerikas, die Heuschrecke bei den Buschmännern; andrerseits sinken natürlich manche Geschlechtstiere bei dem allmählichen Er¬ löschen des Totemismus zu bloßen Wappen und Symbolen herab. Wie nun eine derartige Anschauung, die die Verwandtschaft des Menschen mit der Tier-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/478>, abgerufen am 28.05.2024.