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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die belgische Frage

er geharnischte Protest, den der vlämische Volksrat gegen die
Bestrebungen des Altdeutschen Verbandes geschleudert hat, konnte
nur den überraschen, der mit den Verhältnissen in Belgien nicht
vertraut ist. Namentlich die Herren vom Altdeutschen Verband
scheinen sich in der angenehmen Hoffnung gewiegt zu haben, auf
ihren Kommandoruf würde das ganze vlümische Volk unter begeistertem Hurra¬
geschrei die Einverleibung in das Reich fordern. Um so unangenehmer war
die Erkenntnis, daß der berüchtigte deutsche Doktrinarismus, der glaubt, lebendige
Dinge nach einem abstrakten Maßstabe messen zu können, auch diesmal wieder
eine Niederlage erlitten hatte. Mit "Hello Heil!" und altertümlicher Sprache
kann man keine Politik machen, mit der heiligen Philologie kann man keine
Völkerbewegung in Gang bringen, und die Berufung auf das "heilige römische
Reich deutscher Nation" gehört zu den "oller Kamelien." Deutsche Professoren¬
ideen verbunden mit preußischem Unteroffizierston mögen vielleicht noch den
heutigen Reichsbewohnern imponiren, im Auslande finden sie nur spöttisches
Achselzucken. Die Vlamlünder fühlen sich uicht mehr als Deutsche, und man
thut unklug, ihnen, gestützt auf ihre Abkunft, Ansichten und Wünsche zuzumuten,
die sie gar nicht haben können. Es ist der Wille, der in letzter Hinsicht eine
Nationalität bildet. Alle Hinweise auf gemeinsame Abstammung, die scharf¬
sinnigsten philologischen Untersuchungen, die gründlichsten geschichtlichen Nach¬
weise sind machtlos gegen den klar ausgesprochen Willen. Die Angelsachsen
waren zweifellos Deutsche. Aber schon zu König Alfreds Zeiten wären sie
sicher sehr verwundert gewesen, wenn man daraus irgend welche Ansprüche
hergeleitet hätte, die gegen ihre Interessen gewesen wären. Und die Nord¬
amerikaner würden ähnliche Zumutungen der Engländer, deren Sprache sie


Grenzboten III 18S7 LI


Die belgische Frage

er geharnischte Protest, den der vlämische Volksrat gegen die
Bestrebungen des Altdeutschen Verbandes geschleudert hat, konnte
nur den überraschen, der mit den Verhältnissen in Belgien nicht
vertraut ist. Namentlich die Herren vom Altdeutschen Verband
scheinen sich in der angenehmen Hoffnung gewiegt zu haben, auf
ihren Kommandoruf würde das ganze vlümische Volk unter begeistertem Hurra¬
geschrei die Einverleibung in das Reich fordern. Um so unangenehmer war
die Erkenntnis, daß der berüchtigte deutsche Doktrinarismus, der glaubt, lebendige
Dinge nach einem abstrakten Maßstabe messen zu können, auch diesmal wieder
eine Niederlage erlitten hatte. Mit „Hello Heil!" und altertümlicher Sprache
kann man keine Politik machen, mit der heiligen Philologie kann man keine
Völkerbewegung in Gang bringen, und die Berufung auf das „heilige römische
Reich deutscher Nation" gehört zu den „oller Kamelien." Deutsche Professoren¬
ideen verbunden mit preußischem Unteroffizierston mögen vielleicht noch den
heutigen Reichsbewohnern imponiren, im Auslande finden sie nur spöttisches
Achselzucken. Die Vlamlünder fühlen sich uicht mehr als Deutsche, und man
thut unklug, ihnen, gestützt auf ihre Abkunft, Ansichten und Wünsche zuzumuten,
die sie gar nicht haben können. Es ist der Wille, der in letzter Hinsicht eine
Nationalität bildet. Alle Hinweise auf gemeinsame Abstammung, die scharf¬
sinnigsten philologischen Untersuchungen, die gründlichsten geschichtlichen Nach¬
weise sind machtlos gegen den klar ausgesprochen Willen. Die Angelsachsen
waren zweifellos Deutsche. Aber schon zu König Alfreds Zeiten wären sie
sicher sehr verwundert gewesen, wenn man daraus irgend welche Ansprüche
hergeleitet hätte, die gegen ihre Interessen gewesen wären. Und die Nord¬
amerikaner würden ähnliche Zumutungen der Engländer, deren Sprache sie


Grenzboten III 18S7 LI
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/201>, abgerufen am 01.05.2024.