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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die belgische Frage

sprechen, mit derselben Entschiedenheit zurückweisen wie die griechischen Kolonien,
nachdem sie sich unabhängig gemacht hatten, die Wünsche ihrer Mutterstädte
zurückwiesen.

Es ist auch ein ganz müßiger Streit -- eine wahre Doktorfrage! --, ob
die Niederländer "Deutsche" seien oder nicht. Auf das Wort kommt es über¬
haupt nicht an. Ich will das durch ein einfaches Beispiel klar zu machen
suchen. Denken wir uns, es wanderten hundert deutsche Familien aus,
ließen sich auf einer einsamen Insel nieder und wären dann dreihundert Jahre
vollständig ohne Verbindung mit dem Mutterlande. Ihre Sprache würde sich
natürlich anders entwickeln als in Deutschland. Ihre Sitten, ihre Einrichtungen
ebenfalls. Setzen wir nun den Fall, diese Insel würde nach dreihundert
Jahren von den Reichsbewohnern'entdeckt, so würden sie doch ihre dortigen
Brüder nicht für Deutsche, sondern nur für Stammverwandte, für "Germanen"
erklären. Sie würden sie auch nicht "Deutsche" nennen, sondern sicherlich
nach der Insel, auf der sie wohnen. Wenn nun die Wissenschaft schließlich
feststellt, daß diese Insulaner ebenso gut Deutsche wären wie die im Reiche
zurückgebliebnen, so wäre es doch eine rein theoretische Erörterung, ob man
beiden Völkern dieselbe Bezeichnung zuteil werden lassen solle oder nicht. In
Wahrheit wären zwei Nationalitäten da. Jedenfalls würden es die Jnsel¬
bewohner nicht verstehen, wenn man aus ihrer gemeinsamen Abstammung
irgend einen Rechtstitel herleiten wollte, der sie zu etwas verpflichtete, was
gegen ihre Neigung wäre.

Genau so ist es mit den Niederländern. Die Holländer haben das
schwache Band, das sie an das Reich fesselte, im sechzehnten Jahrhundert
durchschnitten, weil sie einsahen, daß sie sich als unabhängiges Gemeinwesen
besser stünden, und das alternde Reich hat die Trennung anerkannt, weil es
für den Volkszusammenhang kein Verständnis hatte. Das Reich war über¬
haupt kein nationaler Staat und ist es nie gewesen. Der Nationalismus ist
ein Erzeugnis der Neuzeit und hängt wesentlich mit dem Zustandekommen
einer nationalen Bildung, einer Kultursprache und einer Litteratur zusammen.
Für Deutschland, d. h. für das Reich war die Sprache und das Schrifttum
hochdeutsch. In den Niederlanden aber galt das niederdeutsche. Das bewirkte
die Trennung der Geister, die bis auf den heutigen Tag währt.

Das, was der Niederländer vor allem fürchtet, ist, daß man eines Tages
seine Muttersprache mit der hochdeutschen vertauschen könnte. Vssti^la torrsnt.
Die Aufgebung des Niederdeutschen im Reiche schreckt ihn von einer Annäherung
an die Duitschers ab. Unter Duitschers versteht er in Übereinstimmung mit
allen andern Völkern die Germanen, die sich der hochdeutschen Schriftsprache
bedienen. Für sich selbst aber wendet er die Form äistsoli an, was die Alt¬
deutschen nur zu gern mit "deutsch" verwechseln und in ihren Artikeln auch
so wiedergeben, vuitseli und äiötsoli sind aber verschiedne Dinge. Man hat


Die belgische Frage

sprechen, mit derselben Entschiedenheit zurückweisen wie die griechischen Kolonien,
nachdem sie sich unabhängig gemacht hatten, die Wünsche ihrer Mutterstädte
zurückwiesen.

Es ist auch ein ganz müßiger Streit — eine wahre Doktorfrage! —, ob
die Niederländer „Deutsche" seien oder nicht. Auf das Wort kommt es über¬
haupt nicht an. Ich will das durch ein einfaches Beispiel klar zu machen
suchen. Denken wir uns, es wanderten hundert deutsche Familien aus,
ließen sich auf einer einsamen Insel nieder und wären dann dreihundert Jahre
vollständig ohne Verbindung mit dem Mutterlande. Ihre Sprache würde sich
natürlich anders entwickeln als in Deutschland. Ihre Sitten, ihre Einrichtungen
ebenfalls. Setzen wir nun den Fall, diese Insel würde nach dreihundert
Jahren von den Reichsbewohnern'entdeckt, so würden sie doch ihre dortigen
Brüder nicht für Deutsche, sondern nur für Stammverwandte, für „Germanen"
erklären. Sie würden sie auch nicht „Deutsche" nennen, sondern sicherlich
nach der Insel, auf der sie wohnen. Wenn nun die Wissenschaft schließlich
feststellt, daß diese Insulaner ebenso gut Deutsche wären wie die im Reiche
zurückgebliebnen, so wäre es doch eine rein theoretische Erörterung, ob man
beiden Völkern dieselbe Bezeichnung zuteil werden lassen solle oder nicht. In
Wahrheit wären zwei Nationalitäten da. Jedenfalls würden es die Jnsel¬
bewohner nicht verstehen, wenn man aus ihrer gemeinsamen Abstammung
irgend einen Rechtstitel herleiten wollte, der sie zu etwas verpflichtete, was
gegen ihre Neigung wäre.

Genau so ist es mit den Niederländern. Die Holländer haben das
schwache Band, das sie an das Reich fesselte, im sechzehnten Jahrhundert
durchschnitten, weil sie einsahen, daß sie sich als unabhängiges Gemeinwesen
besser stünden, und das alternde Reich hat die Trennung anerkannt, weil es
für den Volkszusammenhang kein Verständnis hatte. Das Reich war über¬
haupt kein nationaler Staat und ist es nie gewesen. Der Nationalismus ist
ein Erzeugnis der Neuzeit und hängt wesentlich mit dem Zustandekommen
einer nationalen Bildung, einer Kultursprache und einer Litteratur zusammen.
Für Deutschland, d. h. für das Reich war die Sprache und das Schrifttum
hochdeutsch. In den Niederlanden aber galt das niederdeutsche. Das bewirkte
die Trennung der Geister, die bis auf den heutigen Tag währt.

Das, was der Niederländer vor allem fürchtet, ist, daß man eines Tages
seine Muttersprache mit der hochdeutschen vertauschen könnte. Vssti^la torrsnt.
Die Aufgebung des Niederdeutschen im Reiche schreckt ihn von einer Annäherung
an die Duitschers ab. Unter Duitschers versteht er in Übereinstimmung mit
allen andern Völkern die Germanen, die sich der hochdeutschen Schriftsprache
bedienen. Für sich selbst aber wendet er die Form äistsoli an, was die Alt¬
deutschen nur zu gern mit „deutsch" verwechseln und in ihren Artikeln auch
so wiedergeben, vuitseli und äiötsoli sind aber verschiedne Dinge. Man hat


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[0202] Die belgische Frage sprechen, mit derselben Entschiedenheit zurückweisen wie die griechischen Kolonien, nachdem sie sich unabhängig gemacht hatten, die Wünsche ihrer Mutterstädte zurückwiesen. Es ist auch ein ganz müßiger Streit — eine wahre Doktorfrage! —, ob die Niederländer „Deutsche" seien oder nicht. Auf das Wort kommt es über¬ haupt nicht an. Ich will das durch ein einfaches Beispiel klar zu machen suchen. Denken wir uns, es wanderten hundert deutsche Familien aus, ließen sich auf einer einsamen Insel nieder und wären dann dreihundert Jahre vollständig ohne Verbindung mit dem Mutterlande. Ihre Sprache würde sich natürlich anders entwickeln als in Deutschland. Ihre Sitten, ihre Einrichtungen ebenfalls. Setzen wir nun den Fall, diese Insel würde nach dreihundert Jahren von den Reichsbewohnern'entdeckt, so würden sie doch ihre dortigen Brüder nicht für Deutsche, sondern nur für Stammverwandte, für „Germanen" erklären. Sie würden sie auch nicht „Deutsche" nennen, sondern sicherlich nach der Insel, auf der sie wohnen. Wenn nun die Wissenschaft schließlich feststellt, daß diese Insulaner ebenso gut Deutsche wären wie die im Reiche zurückgebliebnen, so wäre es doch eine rein theoretische Erörterung, ob man beiden Völkern dieselbe Bezeichnung zuteil werden lassen solle oder nicht. In Wahrheit wären zwei Nationalitäten da. Jedenfalls würden es die Jnsel¬ bewohner nicht verstehen, wenn man aus ihrer gemeinsamen Abstammung irgend einen Rechtstitel herleiten wollte, der sie zu etwas verpflichtete, was gegen ihre Neigung wäre. Genau so ist es mit den Niederländern. Die Holländer haben das schwache Band, das sie an das Reich fesselte, im sechzehnten Jahrhundert durchschnitten, weil sie einsahen, daß sie sich als unabhängiges Gemeinwesen besser stünden, und das alternde Reich hat die Trennung anerkannt, weil es für den Volkszusammenhang kein Verständnis hatte. Das Reich war über¬ haupt kein nationaler Staat und ist es nie gewesen. Der Nationalismus ist ein Erzeugnis der Neuzeit und hängt wesentlich mit dem Zustandekommen einer nationalen Bildung, einer Kultursprache und einer Litteratur zusammen. Für Deutschland, d. h. für das Reich war die Sprache und das Schrifttum hochdeutsch. In den Niederlanden aber galt das niederdeutsche. Das bewirkte die Trennung der Geister, die bis auf den heutigen Tag währt. Das, was der Niederländer vor allem fürchtet, ist, daß man eines Tages seine Muttersprache mit der hochdeutschen vertauschen könnte. Vssti^la torrsnt. Die Aufgebung des Niederdeutschen im Reiche schreckt ihn von einer Annäherung an die Duitschers ab. Unter Duitschers versteht er in Übereinstimmung mit allen andern Völkern die Germanen, die sich der hochdeutschen Schriftsprache bedienen. Für sich selbst aber wendet er die Form äistsoli an, was die Alt¬ deutschen nur zu gern mit „deutsch" verwechseln und in ihren Artikeln auch so wiedergeben, vuitseli und äiötsoli sind aber verschiedne Dinge. Man hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/202>, abgerufen am 15.05.2024.