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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht
(Schluß)

oweit der Religionsunterricht Sittenlehre ist, enthält er außer
den schon angeführten noch andre Schwierigkeiten, die mir je
länger desto unüberwindlicher schienen. Daß und warum ich in
das Geschrei über die "Jesuitenmoral" nicht einstimme, habe ich
bei einer andern Gelegenheit gesagt: in einer für die Geistlichen
geschriebnen Anweisung zur Erteilung des Unterrichts in der Sittenlehre und
zur Beurteilung von Gewissensfällcu kann die Kasuistik nicht entbehrt werde-,.
Darin liegt also das Übel nicht, aber daß die Kasuistik in den Jngendnnterrricht
eindringt, das ist unbedingt vom Übel, und dazu leiten die Katechismen an.
Ein edles Gemüt, zum tüchtigen Charakter gefestigt, verachtet die Kasuistik
und ist nicht im geringsten im Zweifel darüber, ob eine Handlung gut oder
schlecht sei. Ein Verbrechen kann der edle Mann, von Leidenschaft hingerissen,
begehen, aber keine Gemeinheit. Eine Gemeinheit aber ist es z. B., sich diesen
oder jenen zweifelhaften Profit zu gestatten, diesen oder jenen unedeln Ge¬
danken zu hegen, weil nach der probabeln Meinung des Dr. A. bloß eine
läßliche, nach der des Dr. V. gar keine Sünde darin liegt, die Hölle also
nicht unmittelbar droht. Die kasuistische Behandlung der Tugenden, Sünden
und Pflichten erzieht nun, ohne daß es der Lehrer will, zu solcher Gemeinheit.
Der Schüler wird zum Kriminalstudenteu oder zum Börsenspekulanten, der,
das Strafgesetzbuch in der Hand, in jedem Augenblicke prüft, wie weit er in
der Befriedigung unedler Wünsche und Begierden gehen darf, ohne einer Strafe
zu verfallen, die den Vorteil übersteigt. Nicht besser als um die Sündenflncht
steht es um die Tugendübung, wenn sich diese in lauter einzelne gute Werke
auflöst, die nicht unwillkürliche Ausflüsse einer edeln Gesinnung, sondern vor¬
bedachte Frohnarbeiten zur Erkaufung des Himmelslohnes sind. Über Pflichten-
kollisionen hilft auch die eingehendste Kasuistik nicht hinweg; ja darüber soll
sie gar nicht hinweghelfen. Muß der Jüngling, der Mann die eine Pflicht
verletzen, um eine andre erfüllen zu können, so soll er den ganzen Schmerz
empfinden, der in dieser harten Notwendigkeit liegt, und er soll sich ihn von
keinem geistlichen Advokaten rauben lassen. Nun kann ja freilich diese edle




Religionsunterricht
(Schluß)

oweit der Religionsunterricht Sittenlehre ist, enthält er außer
den schon angeführten noch andre Schwierigkeiten, die mir je
länger desto unüberwindlicher schienen. Daß und warum ich in
das Geschrei über die „Jesuitenmoral" nicht einstimme, habe ich
bei einer andern Gelegenheit gesagt: in einer für die Geistlichen
geschriebnen Anweisung zur Erteilung des Unterrichts in der Sittenlehre und
zur Beurteilung von Gewissensfällcu kann die Kasuistik nicht entbehrt werde-,.
Darin liegt also das Übel nicht, aber daß die Kasuistik in den Jngendnnterrricht
eindringt, das ist unbedingt vom Übel, und dazu leiten die Katechismen an.
Ein edles Gemüt, zum tüchtigen Charakter gefestigt, verachtet die Kasuistik
und ist nicht im geringsten im Zweifel darüber, ob eine Handlung gut oder
schlecht sei. Ein Verbrechen kann der edle Mann, von Leidenschaft hingerissen,
begehen, aber keine Gemeinheit. Eine Gemeinheit aber ist es z. B., sich diesen
oder jenen zweifelhaften Profit zu gestatten, diesen oder jenen unedeln Ge¬
danken zu hegen, weil nach der probabeln Meinung des Dr. A. bloß eine
läßliche, nach der des Dr. V. gar keine Sünde darin liegt, die Hölle also
nicht unmittelbar droht. Die kasuistische Behandlung der Tugenden, Sünden
und Pflichten erzieht nun, ohne daß es der Lehrer will, zu solcher Gemeinheit.
Der Schüler wird zum Kriminalstudenteu oder zum Börsenspekulanten, der,
das Strafgesetzbuch in der Hand, in jedem Augenblicke prüft, wie weit er in
der Befriedigung unedler Wünsche und Begierden gehen darf, ohne einer Strafe
zu verfallen, die den Vorteil übersteigt. Nicht besser als um die Sündenflncht
steht es um die Tugendübung, wenn sich diese in lauter einzelne gute Werke
auflöst, die nicht unwillkürliche Ausflüsse einer edeln Gesinnung, sondern vor¬
bedachte Frohnarbeiten zur Erkaufung des Himmelslohnes sind. Über Pflichten-
kollisionen hilft auch die eingehendste Kasuistik nicht hinweg; ja darüber soll
sie gar nicht hinweghelfen. Muß der Jüngling, der Mann die eine Pflicht
verletzen, um eine andre erfüllen zu können, so soll er den ganzen Schmerz
empfinden, der in dieser harten Notwendigkeit liegt, und er soll sich ihn von
keinem geistlichen Advokaten rauben lassen. Nun kann ja freilich diese edle


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[0267] [Abbildung] Religionsunterricht (Schluß) oweit der Religionsunterricht Sittenlehre ist, enthält er außer den schon angeführten noch andre Schwierigkeiten, die mir je länger desto unüberwindlicher schienen. Daß und warum ich in das Geschrei über die „Jesuitenmoral" nicht einstimme, habe ich bei einer andern Gelegenheit gesagt: in einer für die Geistlichen geschriebnen Anweisung zur Erteilung des Unterrichts in der Sittenlehre und zur Beurteilung von Gewissensfällcu kann die Kasuistik nicht entbehrt werde-,. Darin liegt also das Übel nicht, aber daß die Kasuistik in den Jngendnnterrricht eindringt, das ist unbedingt vom Übel, und dazu leiten die Katechismen an. Ein edles Gemüt, zum tüchtigen Charakter gefestigt, verachtet die Kasuistik und ist nicht im geringsten im Zweifel darüber, ob eine Handlung gut oder schlecht sei. Ein Verbrechen kann der edle Mann, von Leidenschaft hingerissen, begehen, aber keine Gemeinheit. Eine Gemeinheit aber ist es z. B., sich diesen oder jenen zweifelhaften Profit zu gestatten, diesen oder jenen unedeln Ge¬ danken zu hegen, weil nach der probabeln Meinung des Dr. A. bloß eine läßliche, nach der des Dr. V. gar keine Sünde darin liegt, die Hölle also nicht unmittelbar droht. Die kasuistische Behandlung der Tugenden, Sünden und Pflichten erzieht nun, ohne daß es der Lehrer will, zu solcher Gemeinheit. Der Schüler wird zum Kriminalstudenteu oder zum Börsenspekulanten, der, das Strafgesetzbuch in der Hand, in jedem Augenblicke prüft, wie weit er in der Befriedigung unedler Wünsche und Begierden gehen darf, ohne einer Strafe zu verfallen, die den Vorteil übersteigt. Nicht besser als um die Sündenflncht steht es um die Tugendübung, wenn sich diese in lauter einzelne gute Werke auflöst, die nicht unwillkürliche Ausflüsse einer edeln Gesinnung, sondern vor¬ bedachte Frohnarbeiten zur Erkaufung des Himmelslohnes sind. Über Pflichten- kollisionen hilft auch die eingehendste Kasuistik nicht hinweg; ja darüber soll sie gar nicht hinweghelfen. Muß der Jüngling, der Mann die eine Pflicht verletzen, um eine andre erfüllen zu können, so soll er den ganzen Schmerz empfinden, der in dieser harten Notwendigkeit liegt, und er soll sich ihn von keinem geistlichen Advokaten rauben lassen. Nun kann ja freilich diese edle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/267>, abgerufen am 01.05.2024.