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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Juristen mit den Pädagogen sträubt man sich freilich mit Händen und Füßen
aus geschichtlichen und andern Gründen; trotzdem ist es vielleicht die idealste
Auffassung der Strafrechtspflege, daß der Strafrichter sich das Ziel setzen soll,
formell korrekt zu urteilen, aber in der Ausübung seines Amtes auch gesunde
Volkspädagogik zu treiben. Ebenso wichtig wie das eine, daß der Richter das
Strafgesetzbuch kennt, vielleicht noch wichtiger ist das andre, daß er den Ver¬
brecher kennt, den Menschen kennt, über dessen Handlungsweise er ein Urteil
fällen soll. Welches Licht wirft es auf den Richter, wenn ein allerdings sehr
schönes, aber bodenlos gemeines Frauenzimmer in der Gefängnisanstält ihren
Genossinnen erzählt: Wenn ich vor dem Richter stehe und so recht aus ge¬
preßtem Herzen seufze und hilfeflehend die Augen aufschlage, zur Not auch
einmal weine, dann verurteilt mich kein Richter zu längerer Haftstrafe oder zu
Arbeitshaus! Dergleichen erzählen sich die Dirnen unter einander, und die
häßlichen Mistfinken unter ihnen, die Proletarier, die schon einmal längere
Strafen erhalten haben, sind ganz neidisch auf die Aristokratinnen ihres
"Geschäfts."

Der gänzliche Mangel an Vertrautsein mit der Strafvollziehung ist mir
immer als eines der Grundübel der heutigen Strafrechtspflege erschienen.
Nur im Verlaufe der Strafvollziehung kann man lernen, wie Strafen wirken,
welche Erfolge sie haben. Trotzdem hält man es nicht einmal für der Mühe
wert, den Juristen während seiner praktischen Ausbildungszeit für das Richter-
amt sich mit der Strafvollziehung beschäftigen zu lassen. Die Thätigkeit der
Amtsrichter, die ja meistenteils Vorsteher der Amtsgerichtsgefängnisfe sind,
kann nicht dafür gelten, denn die Insassen dieser Gefängnisse sind doch größten¬
teils Untersuchungsgefangne oder harmlose Vagabunden. Je mehr aber die
Verwaltung der Strafvollziehung auch noch der Staatsanwaltschaft entzogen
und in die Hände der Polizei und der Verwaltung gelegt wird, umso größer
wird die Entfremdung des Nichterstandes von den Aufgaben der Strafvoll¬
ziehung werden. Und doch sollte die Beschäftigung damit die Arbeit des
grünen Tisches, Strafnrteile zu finden und zu fällen, immer lebendig erhalten.
Geht diese Wechselwirkung immer mehr verloren, so muß die Strafrechtspflege
immer bureaukratischer, immer unvolkstümlicher werden. Mehr Menschlichkeit
am rechtem Orte, mehr Strenge zur rechten Zeit, das sind die Heilmittel, die
man für das Grundübel der modernen Strafrechtspflege fordern muß.




Juristen mit den Pädagogen sträubt man sich freilich mit Händen und Füßen
aus geschichtlichen und andern Gründen; trotzdem ist es vielleicht die idealste
Auffassung der Strafrechtspflege, daß der Strafrichter sich das Ziel setzen soll,
formell korrekt zu urteilen, aber in der Ausübung seines Amtes auch gesunde
Volkspädagogik zu treiben. Ebenso wichtig wie das eine, daß der Richter das
Strafgesetzbuch kennt, vielleicht noch wichtiger ist das andre, daß er den Ver¬
brecher kennt, den Menschen kennt, über dessen Handlungsweise er ein Urteil
fällen soll. Welches Licht wirft es auf den Richter, wenn ein allerdings sehr
schönes, aber bodenlos gemeines Frauenzimmer in der Gefängnisanstält ihren
Genossinnen erzählt: Wenn ich vor dem Richter stehe und so recht aus ge¬
preßtem Herzen seufze und hilfeflehend die Augen aufschlage, zur Not auch
einmal weine, dann verurteilt mich kein Richter zu längerer Haftstrafe oder zu
Arbeitshaus! Dergleichen erzählen sich die Dirnen unter einander, und die
häßlichen Mistfinken unter ihnen, die Proletarier, die schon einmal längere
Strafen erhalten haben, sind ganz neidisch auf die Aristokratinnen ihres
„Geschäfts."

Der gänzliche Mangel an Vertrautsein mit der Strafvollziehung ist mir
immer als eines der Grundübel der heutigen Strafrechtspflege erschienen.
Nur im Verlaufe der Strafvollziehung kann man lernen, wie Strafen wirken,
welche Erfolge sie haben. Trotzdem hält man es nicht einmal für der Mühe
wert, den Juristen während seiner praktischen Ausbildungszeit für das Richter-
amt sich mit der Strafvollziehung beschäftigen zu lassen. Die Thätigkeit der
Amtsrichter, die ja meistenteils Vorsteher der Amtsgerichtsgefängnisfe sind,
kann nicht dafür gelten, denn die Insassen dieser Gefängnisse sind doch größten¬
teils Untersuchungsgefangne oder harmlose Vagabunden. Je mehr aber die
Verwaltung der Strafvollziehung auch noch der Staatsanwaltschaft entzogen
und in die Hände der Polizei und der Verwaltung gelegt wird, umso größer
wird die Entfremdung des Nichterstandes von den Aufgaben der Strafvoll¬
ziehung werden. Und doch sollte die Beschäftigung damit die Arbeit des
grünen Tisches, Strafnrteile zu finden und zu fällen, immer lebendig erhalten.
Geht diese Wechselwirkung immer mehr verloren, so muß die Strafrechtspflege
immer bureaukratischer, immer unvolkstümlicher werden. Mehr Menschlichkeit
am rechtem Orte, mehr Strenge zur rechten Zeit, das sind die Heilmittel, die
man für das Grundübel der modernen Strafrechtspflege fordern muß.




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[0266] Juristen mit den Pädagogen sträubt man sich freilich mit Händen und Füßen aus geschichtlichen und andern Gründen; trotzdem ist es vielleicht die idealste Auffassung der Strafrechtspflege, daß der Strafrichter sich das Ziel setzen soll, formell korrekt zu urteilen, aber in der Ausübung seines Amtes auch gesunde Volkspädagogik zu treiben. Ebenso wichtig wie das eine, daß der Richter das Strafgesetzbuch kennt, vielleicht noch wichtiger ist das andre, daß er den Ver¬ brecher kennt, den Menschen kennt, über dessen Handlungsweise er ein Urteil fällen soll. Welches Licht wirft es auf den Richter, wenn ein allerdings sehr schönes, aber bodenlos gemeines Frauenzimmer in der Gefängnisanstält ihren Genossinnen erzählt: Wenn ich vor dem Richter stehe und so recht aus ge¬ preßtem Herzen seufze und hilfeflehend die Augen aufschlage, zur Not auch einmal weine, dann verurteilt mich kein Richter zu längerer Haftstrafe oder zu Arbeitshaus! Dergleichen erzählen sich die Dirnen unter einander, und die häßlichen Mistfinken unter ihnen, die Proletarier, die schon einmal längere Strafen erhalten haben, sind ganz neidisch auf die Aristokratinnen ihres „Geschäfts." Der gänzliche Mangel an Vertrautsein mit der Strafvollziehung ist mir immer als eines der Grundübel der heutigen Strafrechtspflege erschienen. Nur im Verlaufe der Strafvollziehung kann man lernen, wie Strafen wirken, welche Erfolge sie haben. Trotzdem hält man es nicht einmal für der Mühe wert, den Juristen während seiner praktischen Ausbildungszeit für das Richter- amt sich mit der Strafvollziehung beschäftigen zu lassen. Die Thätigkeit der Amtsrichter, die ja meistenteils Vorsteher der Amtsgerichtsgefängnisfe sind, kann nicht dafür gelten, denn die Insassen dieser Gefängnisse sind doch größten¬ teils Untersuchungsgefangne oder harmlose Vagabunden. Je mehr aber die Verwaltung der Strafvollziehung auch noch der Staatsanwaltschaft entzogen und in die Hände der Polizei und der Verwaltung gelegt wird, umso größer wird die Entfremdung des Nichterstandes von den Aufgaben der Strafvoll¬ ziehung werden. Und doch sollte die Beschäftigung damit die Arbeit des grünen Tisches, Strafnrteile zu finden und zu fällen, immer lebendig erhalten. Geht diese Wechselwirkung immer mehr verloren, so muß die Strafrechtspflege immer bureaukratischer, immer unvolkstümlicher werden. Mehr Menschlichkeit am rechtem Orte, mehr Strenge zur rechten Zeit, das sind die Heilmittel, die man für das Grundübel der modernen Strafrechtspflege fordern muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/266>, abgerufen am 22.05.2024.