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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Karl Otfried Müller
Lin Gedenkblatt

er 28. August ist für das deutsche Volk ein weihevoller Gedenk¬
tag als der Geburtstag Goethes. In diesem Jahre aber müssen
wir daneben noch eines andern Mannes gedenken, auch eines
weiten und großen Geistes, der vor hundert Jahren das Licht
der Welt erblickte, Karl Otfried Müllers. Es liegt mir fern,
beide Männer mit einander vergleichen zu wollen; das hieße beiden Unrecht
thun. Aber gemeinsam war ihnen die seltne Fähigkeit, sich liebevoll in das
Kleinste zu vertiefen, ohne dabei den Überblick über das Ganze, dem sich
tausend Einzelheiten unterordnen, zu verlieren.

Er war "nur" ein Philolog, dieser Mann, noch dazu der klassischen
Philologie ergeben, sür die unsre von der Naturwissenschaft bezauberte oder
in ödem Sport und andern Äußerlichkeiten versunkne Zeit nicht viel Sym¬
pathien übrig hat. Aber er war eine der großartigsten Erscheinungen der
deutschen Wissenschaft, und den Epigonen ziemt es, ihm heute den Ehrenkranz
auf sein Grab zu legen, das er fern von der Heimat, im Angesichte der
Akropolis von Athen, gefunden hat. Wie ein glänzendes Meteor stieg er auf
an dem Himmel der Wissenschaft, um nach kurzem Leuchten plötzlich zu ver¬
löschen; aber sein Licht hatte andres Licht entzündet. Was er errungen und
verfehlt hatte, es hat der Wissenschaft zur Lehre gedient, und je mehr im
einzelnen mancher Baustein seiner Werke unter Sonne und Sturm neuer Ent¬
deckungen und Forschungen verwittert und zerbröckelt, um so fester steht das
Fundament, die Gesamtcmschanung seiner Wissenschaft. Immer mehr kommt
gegenüber einer kleinlichen, die Einzelforschung nicht als Mittel, sondern als
Ziel anhebenden Auffassung der große Gedanke seines Lebens zur Geltung:
der Gedanke einer Altertumswissenschaft. Es ist zwar noch nicht lange her,
daß man verblendet genug war, diesen Gedanken nicht nur zu bekämpfen,
sondern auch mit scheinbar logischer Darlegung zu beweisen versuchte, daß der
Begriff eiuer Altertumswissenschaft an sich ein Unding sei. Aber solche
Stimmen blieben doch nur vereinzelt, und man kann ihre Lehre auf sich be¬
ruhen lassen.


Grenzboten III 1897 47


Karl Otfried Müller
Lin Gedenkblatt

er 28. August ist für das deutsche Volk ein weihevoller Gedenk¬
tag als der Geburtstag Goethes. In diesem Jahre aber müssen
wir daneben noch eines andern Mannes gedenken, auch eines
weiten und großen Geistes, der vor hundert Jahren das Licht
der Welt erblickte, Karl Otfried Müllers. Es liegt mir fern,
beide Männer mit einander vergleichen zu wollen; das hieße beiden Unrecht
thun. Aber gemeinsam war ihnen die seltne Fähigkeit, sich liebevoll in das
Kleinste zu vertiefen, ohne dabei den Überblick über das Ganze, dem sich
tausend Einzelheiten unterordnen, zu verlieren.

Er war „nur" ein Philolog, dieser Mann, noch dazu der klassischen
Philologie ergeben, sür die unsre von der Naturwissenschaft bezauberte oder
in ödem Sport und andern Äußerlichkeiten versunkne Zeit nicht viel Sym¬
pathien übrig hat. Aber er war eine der großartigsten Erscheinungen der
deutschen Wissenschaft, und den Epigonen ziemt es, ihm heute den Ehrenkranz
auf sein Grab zu legen, das er fern von der Heimat, im Angesichte der
Akropolis von Athen, gefunden hat. Wie ein glänzendes Meteor stieg er auf
an dem Himmel der Wissenschaft, um nach kurzem Leuchten plötzlich zu ver¬
löschen; aber sein Licht hatte andres Licht entzündet. Was er errungen und
verfehlt hatte, es hat der Wissenschaft zur Lehre gedient, und je mehr im
einzelnen mancher Baustein seiner Werke unter Sonne und Sturm neuer Ent¬
deckungen und Forschungen verwittert und zerbröckelt, um so fester steht das
Fundament, die Gesamtcmschanung seiner Wissenschaft. Immer mehr kommt
gegenüber einer kleinlichen, die Einzelforschung nicht als Mittel, sondern als
Ziel anhebenden Auffassung der große Gedanke seines Lebens zur Geltung:
der Gedanke einer Altertumswissenschaft. Es ist zwar noch nicht lange her,
daß man verblendet genug war, diesen Gedanken nicht nur zu bekämpfen,
sondern auch mit scheinbar logischer Darlegung zu beweisen versuchte, daß der
Begriff eiuer Altertumswissenschaft an sich ein Unding sei. Aber solche
Stimmen blieben doch nur vereinzelt, und man kann ihre Lehre auf sich be¬
ruhen lassen.


Grenzboten III 1897 47
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[0377] [Abbildung] Karl Otfried Müller Lin Gedenkblatt er 28. August ist für das deutsche Volk ein weihevoller Gedenk¬ tag als der Geburtstag Goethes. In diesem Jahre aber müssen wir daneben noch eines andern Mannes gedenken, auch eines weiten und großen Geistes, der vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickte, Karl Otfried Müllers. Es liegt mir fern, beide Männer mit einander vergleichen zu wollen; das hieße beiden Unrecht thun. Aber gemeinsam war ihnen die seltne Fähigkeit, sich liebevoll in das Kleinste zu vertiefen, ohne dabei den Überblick über das Ganze, dem sich tausend Einzelheiten unterordnen, zu verlieren. Er war „nur" ein Philolog, dieser Mann, noch dazu der klassischen Philologie ergeben, sür die unsre von der Naturwissenschaft bezauberte oder in ödem Sport und andern Äußerlichkeiten versunkne Zeit nicht viel Sym¬ pathien übrig hat. Aber er war eine der großartigsten Erscheinungen der deutschen Wissenschaft, und den Epigonen ziemt es, ihm heute den Ehrenkranz auf sein Grab zu legen, das er fern von der Heimat, im Angesichte der Akropolis von Athen, gefunden hat. Wie ein glänzendes Meteor stieg er auf an dem Himmel der Wissenschaft, um nach kurzem Leuchten plötzlich zu ver¬ löschen; aber sein Licht hatte andres Licht entzündet. Was er errungen und verfehlt hatte, es hat der Wissenschaft zur Lehre gedient, und je mehr im einzelnen mancher Baustein seiner Werke unter Sonne und Sturm neuer Ent¬ deckungen und Forschungen verwittert und zerbröckelt, um so fester steht das Fundament, die Gesamtcmschanung seiner Wissenschaft. Immer mehr kommt gegenüber einer kleinlichen, die Einzelforschung nicht als Mittel, sondern als Ziel anhebenden Auffassung der große Gedanke seines Lebens zur Geltung: der Gedanke einer Altertumswissenschaft. Es ist zwar noch nicht lange her, daß man verblendet genug war, diesen Gedanken nicht nur zu bekämpfen, sondern auch mit scheinbar logischer Darlegung zu beweisen versuchte, daß der Begriff eiuer Altertumswissenschaft an sich ein Unding sei. Aber solche Stimmen blieben doch nur vereinzelt, und man kann ihre Lehre auf sich be¬ ruhen lassen. Grenzboten III 1897 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/377>, abgerufen am 01.05.2024.