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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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politische Unreife und politische Unarten

user Kaiser hat jüngst in Budapest die politische Reise der
Magyaren gerühmt. Manche fanden seine Worte zu enthusiastisch,
andre unzeitgemäß gegenüber einem Volke, das unsre Stammes¬
genossen in Ungarn seit dreißig Jahren in ihrem nationalen
Dasein bedroht und vollen Zweidritteln der Völker im Lande der
Stephcmskronc eine ihnen fremde, mit keiner europäischen Sprache außer der
finnischen und türkischen verwandte Mundart mit allen Mitteln aufzudrängen
sucht; aber als unbegründet kann diese Behauptung niemand bezeichnen. Es
mag uns und den österreichischen Deutschen so bitter ankommen, wie es will,
Thatsache ist es doch, daß die Magharen sehr frühzeitig zu einer festen Staats¬
ordnung gelangt sind, zähe an ihr und ihrem Volkstume durch Jahrhunderte
schwerer Bedrängnis festgehalten und sich schließlich trotz ihrer kleinen Zahl
die führende Stellung im Reiche der Habsburger errungen haben, nicht nur
weil sie als eine herrschende Minderheit bei Strafe der Vernichtung zum engsten
Zusammenschluß gezwungen waren, sondern auch weil ihr tapferer Adel
jederzeit die Führung behauptet hat und ein starkes Selbstbewußtsein dem
kleinen Volke vou jeher eigen gewesen ist.

Wenn wir uns dagegen fragen: Wie steht es denn mit der politischen Reife
des deutschen Volkes im deutschen Reiche? so müssen wir leider, wenn wir
ehrlich sein wollen, bekennen, daß wir noch kein reifes Volk sind; ja es kann
Zweifelhaft sein, ob wir es überhaupt jemals gewesen sind. Im Mittelalter
gab es Jahrhunderte, wo die Deutschen den Slawen und Magyaren, den
Dänen und Italienern den Fuß auf den Nacken setzten, mit abweisendem
Stolze sich als das erste Volk Europas fühlten und' den kaiserlichen Adler
ins nach Jerusalem und bis an den finnischen Meerbusen trugen. Das war
das Werk herrschgewaltiger und herrschender Stände, der deutschen Ritterschaft


Grenzboten IV 1897 44


politische Unreife und politische Unarten

user Kaiser hat jüngst in Budapest die politische Reise der
Magyaren gerühmt. Manche fanden seine Worte zu enthusiastisch,
andre unzeitgemäß gegenüber einem Volke, das unsre Stammes¬
genossen in Ungarn seit dreißig Jahren in ihrem nationalen
Dasein bedroht und vollen Zweidritteln der Völker im Lande der
Stephcmskronc eine ihnen fremde, mit keiner europäischen Sprache außer der
finnischen und türkischen verwandte Mundart mit allen Mitteln aufzudrängen
sucht; aber als unbegründet kann diese Behauptung niemand bezeichnen. Es
mag uns und den österreichischen Deutschen so bitter ankommen, wie es will,
Thatsache ist es doch, daß die Magharen sehr frühzeitig zu einer festen Staats¬
ordnung gelangt sind, zähe an ihr und ihrem Volkstume durch Jahrhunderte
schwerer Bedrängnis festgehalten und sich schließlich trotz ihrer kleinen Zahl
die führende Stellung im Reiche der Habsburger errungen haben, nicht nur
weil sie als eine herrschende Minderheit bei Strafe der Vernichtung zum engsten
Zusammenschluß gezwungen waren, sondern auch weil ihr tapferer Adel
jederzeit die Führung behauptet hat und ein starkes Selbstbewußtsein dem
kleinen Volke vou jeher eigen gewesen ist.

Wenn wir uns dagegen fragen: Wie steht es denn mit der politischen Reife
des deutschen Volkes im deutschen Reiche? so müssen wir leider, wenn wir
ehrlich sein wollen, bekennen, daß wir noch kein reifes Volk sind; ja es kann
Zweifelhaft sein, ob wir es überhaupt jemals gewesen sind. Im Mittelalter
gab es Jahrhunderte, wo die Deutschen den Slawen und Magyaren, den
Dänen und Italienern den Fuß auf den Nacken setzten, mit abweisendem
Stolze sich als das erste Volk Europas fühlten und' den kaiserlichen Adler
ins nach Jerusalem und bis an den finnischen Meerbusen trugen. Das war
das Werk herrschgewaltiger und herrschender Stände, der deutschen Ritterschaft


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[0355] [Abbildung] politische Unreife und politische Unarten user Kaiser hat jüngst in Budapest die politische Reise der Magyaren gerühmt. Manche fanden seine Worte zu enthusiastisch, andre unzeitgemäß gegenüber einem Volke, das unsre Stammes¬ genossen in Ungarn seit dreißig Jahren in ihrem nationalen Dasein bedroht und vollen Zweidritteln der Völker im Lande der Stephcmskronc eine ihnen fremde, mit keiner europäischen Sprache außer der finnischen und türkischen verwandte Mundart mit allen Mitteln aufzudrängen sucht; aber als unbegründet kann diese Behauptung niemand bezeichnen. Es mag uns und den österreichischen Deutschen so bitter ankommen, wie es will, Thatsache ist es doch, daß die Magharen sehr frühzeitig zu einer festen Staats¬ ordnung gelangt sind, zähe an ihr und ihrem Volkstume durch Jahrhunderte schwerer Bedrängnis festgehalten und sich schließlich trotz ihrer kleinen Zahl die führende Stellung im Reiche der Habsburger errungen haben, nicht nur weil sie als eine herrschende Minderheit bei Strafe der Vernichtung zum engsten Zusammenschluß gezwungen waren, sondern auch weil ihr tapferer Adel jederzeit die Führung behauptet hat und ein starkes Selbstbewußtsein dem kleinen Volke vou jeher eigen gewesen ist. Wenn wir uns dagegen fragen: Wie steht es denn mit der politischen Reife des deutschen Volkes im deutschen Reiche? so müssen wir leider, wenn wir ehrlich sein wollen, bekennen, daß wir noch kein reifes Volk sind; ja es kann Zweifelhaft sein, ob wir es überhaupt jemals gewesen sind. Im Mittelalter gab es Jahrhunderte, wo die Deutschen den Slawen und Magyaren, den Dänen und Italienern den Fuß auf den Nacken setzten, mit abweisendem Stolze sich als das erste Volk Europas fühlten und' den kaiserlichen Adler ins nach Jerusalem und bis an den finnischen Meerbusen trugen. Das war das Werk herrschgewaltiger und herrschender Stände, der deutschen Ritterschaft Grenzboten IV 1897 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/355>, abgerufen am 06.05.2024.