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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

"Meine Verlobung mit Fräulein Luise Lehmann" usw., so bekommt ein Mensch,
der Sprachgefühl hat, jedesmal einen gelinden Schrecken, denn er kann sich diesen
Satz nur etwa so sortgesetzt denken: "ist heute aufgehoben worden." Denn "beehre
ich mich hiermit anzuzeigen" sagt gar nichts; die Anzeige geschieht ja eben durch
deu Druck, der Hauptbegriff liegt in dem Worte Verlobung, ganz abgesehen davon,
daß ein Femininum am Anfang eines Satzes nie als Accusativ gefühlt wird,
wenigstens nicht eher, als bis endlich das regierende Verbum nachkommt. Die
Logik verlangt: "Hierdurch beehre ich mich ergebenst anzuzeigen, daß ich mich mit
Fräulein Luise Lehmann verlobt habe." Aber in diesen Dingen gilt eben schlechter¬
dings keine Logik, auch nichts natürliches, persönliches, eigentümliches, sondern nur
die Mode.

In Leipzig wird seit einigen Jahren in Todesanzeigen jeder Verstorbne "der
unvergeßliche" genannt: "Heute starb unser unvergeßlicher Vater, Großvater,
Schwiegervater und Onkel" usw. Wenn jemand zwanzig Jahre nach seinem Tode
so genannt wird, so hat das einen guten Sinn, denn nach zwanzig Jahren ist
mancher ganz vergessen. Aber einen, der eben die Augen geschlossen hat, und dessen
Leichnam womöglich noch im Sterbehause liegt, schon als "deu unvergeßlichen" zu
bezeichnen, ist doch abgeschmackt. Es schreibts aber immer einer dem andern nach.
Der "unvergeßliche Onkel" steht schon ganz auf einer Stufe mit dem unauslösch¬
lichen Dank, der unmaßgeblichen Meinung, der unwiederbringlichen Zeit, dem
unersetzlichen Verlust, dem unabänderlichen Beschluß, dem unerbittlichen Schicksal,
dem unverbesserlichen Taugenichts und ähnlichen Phrasen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

„Meine Verlobung mit Fräulein Luise Lehmann" usw., so bekommt ein Mensch,
der Sprachgefühl hat, jedesmal einen gelinden Schrecken, denn er kann sich diesen
Satz nur etwa so sortgesetzt denken: „ist heute aufgehoben worden." Denn „beehre
ich mich hiermit anzuzeigen" sagt gar nichts; die Anzeige geschieht ja eben durch
deu Druck, der Hauptbegriff liegt in dem Worte Verlobung, ganz abgesehen davon,
daß ein Femininum am Anfang eines Satzes nie als Accusativ gefühlt wird,
wenigstens nicht eher, als bis endlich das regierende Verbum nachkommt. Die
Logik verlangt: „Hierdurch beehre ich mich ergebenst anzuzeigen, daß ich mich mit
Fräulein Luise Lehmann verlobt habe." Aber in diesen Dingen gilt eben schlechter¬
dings keine Logik, auch nichts natürliches, persönliches, eigentümliches, sondern nur
die Mode.

In Leipzig wird seit einigen Jahren in Todesanzeigen jeder Verstorbne „der
unvergeßliche" genannt: „Heute starb unser unvergeßlicher Vater, Großvater,
Schwiegervater und Onkel" usw. Wenn jemand zwanzig Jahre nach seinem Tode
so genannt wird, so hat das einen guten Sinn, denn nach zwanzig Jahren ist
mancher ganz vergessen. Aber einen, der eben die Augen geschlossen hat, und dessen
Leichnam womöglich noch im Sterbehause liegt, schon als „deu unvergeßlichen" zu
bezeichnen, ist doch abgeschmackt. Es schreibts aber immer einer dem andern nach.
Der „unvergeßliche Onkel" steht schon ganz auf einer Stufe mit dem unauslösch¬
lichen Dank, der unmaßgeblichen Meinung, der unwiederbringlichen Zeit, dem
unersetzlichen Verlust, dem unabänderlichen Beschluß, dem unerbittlichen Schicksal,
dem unverbesserlichen Taugenichts und ähnlichen Phrasen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0354] Maßgebliches und Unmaßgebliches „Meine Verlobung mit Fräulein Luise Lehmann" usw., so bekommt ein Mensch, der Sprachgefühl hat, jedesmal einen gelinden Schrecken, denn er kann sich diesen Satz nur etwa so sortgesetzt denken: „ist heute aufgehoben worden." Denn „beehre ich mich hiermit anzuzeigen" sagt gar nichts; die Anzeige geschieht ja eben durch deu Druck, der Hauptbegriff liegt in dem Worte Verlobung, ganz abgesehen davon, daß ein Femininum am Anfang eines Satzes nie als Accusativ gefühlt wird, wenigstens nicht eher, als bis endlich das regierende Verbum nachkommt. Die Logik verlangt: „Hierdurch beehre ich mich ergebenst anzuzeigen, daß ich mich mit Fräulein Luise Lehmann verlobt habe." Aber in diesen Dingen gilt eben schlechter¬ dings keine Logik, auch nichts natürliches, persönliches, eigentümliches, sondern nur die Mode. In Leipzig wird seit einigen Jahren in Todesanzeigen jeder Verstorbne „der unvergeßliche" genannt: „Heute starb unser unvergeßlicher Vater, Großvater, Schwiegervater und Onkel" usw. Wenn jemand zwanzig Jahre nach seinem Tode so genannt wird, so hat das einen guten Sinn, denn nach zwanzig Jahren ist mancher ganz vergessen. Aber einen, der eben die Augen geschlossen hat, und dessen Leichnam womöglich noch im Sterbehause liegt, schon als „deu unvergeßlichen" zu bezeichnen, ist doch abgeschmackt. Es schreibts aber immer einer dem andern nach. Der „unvergeßliche Onkel" steht schon ganz auf einer Stufe mit dem unauslösch¬ lichen Dank, der unmaßgeblichen Meinung, der unwiederbringlichen Zeit, dem unersetzlichen Verlust, dem unabänderlichen Beschluß, dem unerbittlichen Schicksal, dem unverbesserlichen Taugenichts und ähnlichen Phrasen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/354>, abgerufen am 18.05.2024.