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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche
v <Lari Jentsch on 5

le in der Einleitung bemerkt worde
n ist, genügt schon die Ver¬
logenheit unsrer Zeit, höflicher ausgedrückt, der allgemeine Wider¬
spruch zwischen Theorie und Praxis, einen Geist wie Nietzsche
zur Auflehnung gegen alle geltende Autorität, namentlich gegen
die des Christentums zu reizen. Welcher tiefer Denkende Hütte
nicht schon gedacht und empfunden, was Nietzsche an den folgenden Stellen
ausspricht: "Wenn das Christentum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte,
der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen
Verdammnis Recht Hütte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Cha¬
rakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht
und Zittern einzig am eignen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen
Vorteil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Voraus¬
gesetzt, daß überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltagschrist eine erbärmliche
Ngur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens,
gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart
bestraft zu werden, wie das Christentum ihm verheißt" (II, 128). "Ihr
Frommen und Gläubigen, wenn der Glaube euch selig macht, so gebt euch
auch als selig! Eure Gesichter sind immer euerm Glauben schädlicher*) ge¬
wesen als unsre Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins
Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses
Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Worte, eure Handlungen sollten
die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch
fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christentums ihre
Wurzel in euerm Urchristentum; mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne
Anklageschrift" (III, 56). "Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht



^ Der Leser wird längst bemerkt haben, daß Nietzsches Stil nicht durchweg mustergiltig ist.
^°der sieht hier, daß er "was andres meint, als was das Wort besagt. Bei den Zitaten aus
den letzten vier Bänden kann zur Entschuldigung dienen, daß sie Aufsätzen, Aphorismen und
Bruchstücken entnommen sind, die er nicht selbst druckfertig gemacht hat; aber dieses hier ist aus
"Menschliches, allzu menschliches/'


Friedrich Nietzsche
v <Lari Jentsch on 5

le in der Einleitung bemerkt worde
n ist, genügt schon die Ver¬
logenheit unsrer Zeit, höflicher ausgedrückt, der allgemeine Wider¬
spruch zwischen Theorie und Praxis, einen Geist wie Nietzsche
zur Auflehnung gegen alle geltende Autorität, namentlich gegen
die des Christentums zu reizen. Welcher tiefer Denkende Hütte
nicht schon gedacht und empfunden, was Nietzsche an den folgenden Stellen
ausspricht: „Wenn das Christentum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte,
der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen
Verdammnis Recht Hütte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Cha¬
rakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht
und Zittern einzig am eignen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen
Vorteil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Voraus¬
gesetzt, daß überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltagschrist eine erbärmliche
Ngur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens,
gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart
bestraft zu werden, wie das Christentum ihm verheißt" (II, 128). „Ihr
Frommen und Gläubigen, wenn der Glaube euch selig macht, so gebt euch
auch als selig! Eure Gesichter sind immer euerm Glauben schädlicher*) ge¬
wesen als unsre Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins
Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses
Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Worte, eure Handlungen sollten
die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch
fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christentums ihre
Wurzel in euerm Urchristentum; mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne
Anklageschrift" (III, 56). „Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht



^ Der Leser wird längst bemerkt haben, daß Nietzsches Stil nicht durchweg mustergiltig ist.
^°der sieht hier, daß er «was andres meint, als was das Wort besagt. Bei den Zitaten aus
den letzten vier Bänden kann zur Entschuldigung dienen, daß sie Aufsätzen, Aphorismen und
Bruchstücken entnommen sind, die er nicht selbst druckfertig gemacht hat; aber dieses hier ist aus
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/221>, abgerufen am 29.04.2024.