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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns -- zu verbrennen"
(VII, 99). "Das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einst¬
weilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das
sind die Komödianten dieses Ideals, denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst,
wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist,
entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals -- der populäre Ausdruck für diese
Abstinenz ist "Atheismus" --: abgerechnet seines ^so!j Willens zur Wahrheit.
Dieser Wille aber, dieser Nest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will,
jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, cholerisch ganz
und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern.
Der unbedingte redliche Atheismus (und seine Luft allein atmen wir, wir
geistigem Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß nicht im Gegensatz zu
jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten
Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und innern Folgerichtigkeiten,
er ist die ehrfurchtgebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur
Wahrheit, welche am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott ver¬
bietet" (VII, 480).

Daß nun unter den Urteilen über das Christentum nicht wenige vor¬
kommen, die einander widersprechen, versteht sich bei einem Nietzsche von selbst.
Freilich überwiegen die ungünstigen. "Wenn wir eines Sonntags Morgens
die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: Ist es nur möglich!
Dies gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er
sei Gottes Sohn. Der Beweis sür eine solche Behauptung fehlt" (H, 126).
Mit dem Christeutume "kann man sich nach dem gegenwärtigen Stande der
Erkenntnis schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellektuelles Ge¬
wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und andern preiszugeben" (11, 117).
"Der christliche Entschluß, die Welt häßlich und schlecht zu finden, hat die
Welt häßlich und schlecht gemacht. . . . Der Stifter des Christentums meinte,
an nichts litten die Menschen so sehr, als an ihren Sünden; es war sein
Irrtum, der Irrtum dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an
Erfahrung gebrach. Aber die Christen haben es verstanden, ihrem Meister
nachträglich Recht zu schaffen und seinen Irrtum zur Wahrheit zu heiligen"
(V, 168 und 172). Oft klagt er das Christentum an, daß es die Natur, die
Welt, den Menschen verkennte. Er verachtet die Engländer als eine ganz
unphilosophische Nasse. "Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat,
das wußte jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte
Wirrkopf Carlhle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte,
was er von sich selbst wußte: nämlich woran es in Carlyle fehlte, an eigent¬
licher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz an
Philosophie. Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Nasse, daß sie streng
zum Christentum hält; sie braucht seine Zucht zur Moralisirung und Ver-


Friedrich Nietzsche

ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns — zu verbrennen"
(VII, 99). „Das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einst¬
weilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das
sind die Komödianten dieses Ideals, denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst,
wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist,
entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals — der populäre Ausdruck für diese
Abstinenz ist »Atheismus« —: abgerechnet seines ^so!j Willens zur Wahrheit.
Dieser Wille aber, dieser Nest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will,
jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, cholerisch ganz
und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern.
Der unbedingte redliche Atheismus (und seine Luft allein atmen wir, wir
geistigem Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß nicht im Gegensatz zu
jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten
Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und innern Folgerichtigkeiten,
er ist die ehrfurchtgebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur
Wahrheit, welche am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott ver¬
bietet" (VII, 480).

Daß nun unter den Urteilen über das Christentum nicht wenige vor¬
kommen, die einander widersprechen, versteht sich bei einem Nietzsche von selbst.
Freilich überwiegen die ungünstigen. „Wenn wir eines Sonntags Morgens
die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: Ist es nur möglich!
Dies gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er
sei Gottes Sohn. Der Beweis sür eine solche Behauptung fehlt" (H, 126).
Mit dem Christeutume „kann man sich nach dem gegenwärtigen Stande der
Erkenntnis schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellektuelles Ge¬
wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und andern preiszugeben" (11, 117).
„Der christliche Entschluß, die Welt häßlich und schlecht zu finden, hat die
Welt häßlich und schlecht gemacht. . . . Der Stifter des Christentums meinte,
an nichts litten die Menschen so sehr, als an ihren Sünden; es war sein
Irrtum, der Irrtum dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an
Erfahrung gebrach. Aber die Christen haben es verstanden, ihrem Meister
nachträglich Recht zu schaffen und seinen Irrtum zur Wahrheit zu heiligen"
(V, 168 und 172). Oft klagt er das Christentum an, daß es die Natur, die
Welt, den Menschen verkennte. Er verachtet die Engländer als eine ganz
unphilosophische Nasse. „Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat,
das wußte jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte
Wirrkopf Carlhle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte,
was er von sich selbst wußte: nämlich woran es in Carlyle fehlte, an eigent¬
licher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz an
Philosophie. Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Nasse, daß sie streng
zum Christentum hält; sie braucht seine Zucht zur Moralisirung und Ver-


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[0222] Friedrich Nietzsche ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns — zu verbrennen" (VII, 99). „Das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einst¬ weilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals, denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals — der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist »Atheismus« —: abgerechnet seines ^so!j Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Nest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, cholerisch ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (und seine Luft allein atmen wir, wir geistigem Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und innern Folgerichtigkeiten, er ist die ehrfurchtgebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott ver¬ bietet" (VII, 480). Daß nun unter den Urteilen über das Christentum nicht wenige vor¬ kommen, die einander widersprechen, versteht sich bei einem Nietzsche von selbst. Freilich überwiegen die ungünstigen. „Wenn wir eines Sonntags Morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: Ist es nur möglich! Dies gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis sür eine solche Behauptung fehlt" (H, 126). Mit dem Christeutume „kann man sich nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntnis schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellektuelles Ge¬ wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und andern preiszugeben" (11, 117). „Der christliche Entschluß, die Welt häßlich und schlecht zu finden, hat die Welt häßlich und schlecht gemacht. . . . Der Stifter des Christentums meinte, an nichts litten die Menschen so sehr, als an ihren Sünden; es war sein Irrtum, der Irrtum dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an Erfahrung gebrach. Aber die Christen haben es verstanden, ihrem Meister nachträglich Recht zu schaffen und seinen Irrtum zur Wahrheit zu heiligen" (V, 168 und 172). Oft klagt er das Christentum an, daß es die Natur, die Welt, den Menschen verkennte. Er verachtet die Engländer als eine ganz unphilosophische Nasse. „Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wußte jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlhle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wußte: nämlich woran es in Carlyle fehlte, an eigent¬ licher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz an Philosophie. Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Nasse, daß sie streng zum Christentum hält; sie braucht seine Zucht zur Moralisirung und Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/222>, abgerufen am 16.05.2024.