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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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was ist Glück?
Gustav Rleinert Line überflüssige Betrachtung von

eder
, der einmal in Sekunda gesessen hat, um sich in heiligem Ernst
ans den zukünftigen Reservelentnant vorzubereiten, hat wahrscheinlich
auch über das Goethische Wort einen Aufsatz schreiben müssen: Alles
in der Welt läßt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen
Tagen. Der Satz imponirt jedem sekundärer, weil ihn der Inhalt
stutzig macht. Er würde auch nicht so recht an die Wahrheit
dieses Satzes glauben, wenn es Goethe nicht selbst gesagt hätte. Und in der That,
es gehört schon eine tüchtige Portion Idealismus -- insonderheit Sekundaner-
idealismus -- dazu, um wirklich eine Reihe von schönen Tagen nicht mehr ertragen
zu können. Ich hatte wenigstens schon als sekundärer so ein dunkles Gefühl für
das, was ich die Herren Schulmeister später häufig habe aussprechen hören, daß
nämlich der Schulunterricht eine unangenehme Unterbrechung der Ferien sei, ein
Satz, der jedenfalls in schreienden Gegensatz zu jenem Goethischen Diktum steht:
die Herren haben die Reihe von schönen Tagen, selbst wenn sie sich bis auf fünf
Wochen Ferien beliefen, ziemlich gut ertragen. Trotzdem aber stellten die Herren
Schulmeister mit besondrer Vorliebe gerade nach den Ferien das Thema von der
Unerträglichkeit der schönen Tage. Die sekundärer mußten also im Schweiße ihres
Angesichts einen Satz beweisen und die unglaublichsten Gründe dafür herbei¬
schleppen, über die die Herren Schulmeister dann bei der Lektüre stillvergnügt
lächelten.

Das Paradoxe, das Verblüffend-Halbwahre hat ja bekanntlich etwas viel Be¬
stechenderes, es nimmt sich viel blendender, viel poetischer aus als eine nüchtern platte
Wahrheit. Absolute Wahrheiten giebt es ja auch gar nicht, nicht einmal in der
Mathematik, denn kein Mensch kann ohne Einwand beweisen, daß zwei mal zwei
vier ist, oder daß zwei Größen einer dritten gleich sind, wenn sie untereinander
gleich sind. O, ich weiß sehr wohl, daß die Herren da mit ihren Fachkenntnissen
über mich herfallen können, aber es ist dumm, sehr dumm, die Geschichte von den
sogenannten Axiomen, die kein Mensch beweisen kann, also die Mathematiker auch
nicht. Ich bleibe dabei, es giebt keine absoluten Wahrheiten, vielleicht eine ein¬
zige -- die ist aber anch darnach --, daß wir alle einmal sterben müssen, die
Mathematiker miteinbegriffen. Sicher, absolut sicher ist das aber auch uoch nicht,
und möglicherweise drückt sich doch noch hier und dn einer herum und thut mir
so, als wenn er auch mitstürbe.

Aber aus dem berühmten Goethischen Satze können wir doch wenigstens den
landläufigen Gedanken herausschälen, daß das Glück nicht außer uns, sondern in
uns liegt, das Glück, ein abstrakter Ausdruck für eine ganz konkrete Sache: das
Glück besteht eben in einer Reihe von schönen Tagen. Wir selbst machen uns
glücklich oder unglücklich, diese große Wahrheit steckt schon in dem banalen Sprich-


Grenzboten III 1M8 30


was ist Glück?
Gustav Rleinert Line überflüssige Betrachtung von

eder
, der einmal in Sekunda gesessen hat, um sich in heiligem Ernst
ans den zukünftigen Reservelentnant vorzubereiten, hat wahrscheinlich
auch über das Goethische Wort einen Aufsatz schreiben müssen: Alles
in der Welt läßt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen
Tagen. Der Satz imponirt jedem sekundärer, weil ihn der Inhalt
stutzig macht. Er würde auch nicht so recht an die Wahrheit
dieses Satzes glauben, wenn es Goethe nicht selbst gesagt hätte. Und in der That,
es gehört schon eine tüchtige Portion Idealismus — insonderheit Sekundaner-
idealismus — dazu, um wirklich eine Reihe von schönen Tagen nicht mehr ertragen
zu können. Ich hatte wenigstens schon als sekundärer so ein dunkles Gefühl für
das, was ich die Herren Schulmeister später häufig habe aussprechen hören, daß
nämlich der Schulunterricht eine unangenehme Unterbrechung der Ferien sei, ein
Satz, der jedenfalls in schreienden Gegensatz zu jenem Goethischen Diktum steht:
die Herren haben die Reihe von schönen Tagen, selbst wenn sie sich bis auf fünf
Wochen Ferien beliefen, ziemlich gut ertragen. Trotzdem aber stellten die Herren
Schulmeister mit besondrer Vorliebe gerade nach den Ferien das Thema von der
Unerträglichkeit der schönen Tage. Die sekundärer mußten also im Schweiße ihres
Angesichts einen Satz beweisen und die unglaublichsten Gründe dafür herbei¬
schleppen, über die die Herren Schulmeister dann bei der Lektüre stillvergnügt
lächelten.

Das Paradoxe, das Verblüffend-Halbwahre hat ja bekanntlich etwas viel Be¬
stechenderes, es nimmt sich viel blendender, viel poetischer aus als eine nüchtern platte
Wahrheit. Absolute Wahrheiten giebt es ja auch gar nicht, nicht einmal in der
Mathematik, denn kein Mensch kann ohne Einwand beweisen, daß zwei mal zwei
vier ist, oder daß zwei Größen einer dritten gleich sind, wenn sie untereinander
gleich sind. O, ich weiß sehr wohl, daß die Herren da mit ihren Fachkenntnissen
über mich herfallen können, aber es ist dumm, sehr dumm, die Geschichte von den
sogenannten Axiomen, die kein Mensch beweisen kann, also die Mathematiker auch
nicht. Ich bleibe dabei, es giebt keine absoluten Wahrheiten, vielleicht eine ein¬
zige — die ist aber anch darnach —, daß wir alle einmal sterben müssen, die
Mathematiker miteinbegriffen. Sicher, absolut sicher ist das aber auch uoch nicht,
und möglicherweise drückt sich doch noch hier und dn einer herum und thut mir
so, als wenn er auch mitstürbe.

Aber aus dem berühmten Goethischen Satze können wir doch wenigstens den
landläufigen Gedanken herausschälen, daß das Glück nicht außer uns, sondern in
uns liegt, das Glück, ein abstrakter Ausdruck für eine ganz konkrete Sache: das
Glück besteht eben in einer Reihe von schönen Tagen. Wir selbst machen uns
glücklich oder unglücklich, diese große Wahrheit steckt schon in dem banalen Sprich-


Grenzboten III 1M8 30
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/241>, abgerufen am 29.04.2024.