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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

daß sich endlich der Kongreß selbst mit all den ihm innewohnenden Kräften
der Aufgabe zuwenden möge, der evangelischen Kirche den Einfluß auf das
sittlich-soziale Verhalten der evangelischen Christen, arm und reich, wieder zu
erkämpfen, der ihr nach erschreckend allgemeinem Urteil so gut wie ganz ver¬
loren gegangen ist, und ohne den alle sozialpolitischen Kämpfe und Erfolge
di /? e so dringend ersehnte Versöhnung niemals herbeiführen können?




Frühlingstage am Garigliano
(Fortsetzung"

le Auff
ahrt aus dem Thale nach Alatri, dem alten Aletrium,
ist noch malerischer als die nach Veroli. Man sieht hie und
da, daß der steile Felsen, auf dem die Stadt thront, künstlich
geglättet ist, um die Festigkeit des Ortes zu erhöhen; an andern
Stellen lugt aus dem sprossenden Grün braunes, cyklopisches
Mauerwerk, in dessen Fugen sich riesige Agaven angesiedelt haben. Die Ring¬
mauer hat nach neuen Messungen einen Umfang von vier Kilometern, innerhalb
deren jetzt ungefähr 5500 Einwohner Hausen. Gleich am Thore mußten wir
aussteigen, weil die Straßen der Stadt zu eng sind, daß man während des
Tagestreibens darin fahren könnte; dabei sahen wir zahlreiche Bergciocaren
(-- Sandalenträger) in ihrer bunten Tracht, die das Osterfest herbeigelockt
hatte. Dann eilten wir in die altertümliche Locanda centrale, die von einem
energischen Hernikerweibe gut und sauber geleitet wird. Diese Padrona waltet
nicht nur über dem Manne, der, wie gewöhnlich in solchen Gasthäusern, für
den Reisenden gar nicht sichtbar ist, und über acht Kindern und zahlreichem
Gesinde, sondern auch über dem Fremdling, dem sie mit einer Bestimmtheit,
die keinen Widerspruch duldet, vorschreibt, was er essen und trinken soll. Wir
bekamen hier zum erstenmal seit langer Zeit einen trinkbaren Kaffee mit gutem
Festtagskuchen -- paus Ä'LsxgAna aus geschlagner Eiern, Zucker und Mehl --,
am Abend aber ein ordentliches Stück Fleisch und wilden, aber ganz zarten
Bergspargel (ssxaraAi äst irionts), der auf den benachbarten Höhen wächst.
In Rom, wo wir dasselbe Gericht später zu essen erhielten, war es viel
schlechter.

Gregorovius lobte vor vierzig Jahren Brot und Wein von Alatri. Dieses
Lob besteht noch heute zu Recht. Ich habe selten so herrlichen Weißwein ge¬
trunken wie in Alatri: ein wenig süß, aber kräftig, erinnerte er am meisten an


Frühlingstage am Garigliano

daß sich endlich der Kongreß selbst mit all den ihm innewohnenden Kräften
der Aufgabe zuwenden möge, der evangelischen Kirche den Einfluß auf das
sittlich-soziale Verhalten der evangelischen Christen, arm und reich, wieder zu
erkämpfen, der ihr nach erschreckend allgemeinem Urteil so gut wie ganz ver¬
loren gegangen ist, und ohne den alle sozialpolitischen Kämpfe und Erfolge
di /? e so dringend ersehnte Versöhnung niemals herbeiführen können?




Frühlingstage am Garigliano
(Fortsetzung»

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ahrt aus dem Thale nach Alatri, dem alten Aletrium,
ist noch malerischer als die nach Veroli. Man sieht hie und
da, daß der steile Felsen, auf dem die Stadt thront, künstlich
geglättet ist, um die Festigkeit des Ortes zu erhöhen; an andern
Stellen lugt aus dem sprossenden Grün braunes, cyklopisches
Mauerwerk, in dessen Fugen sich riesige Agaven angesiedelt haben. Die Ring¬
mauer hat nach neuen Messungen einen Umfang von vier Kilometern, innerhalb
deren jetzt ungefähr 5500 Einwohner Hausen. Gleich am Thore mußten wir
aussteigen, weil die Straßen der Stadt zu eng sind, daß man während des
Tagestreibens darin fahren könnte; dabei sahen wir zahlreiche Bergciocaren
(— Sandalenträger) in ihrer bunten Tracht, die das Osterfest herbeigelockt
hatte. Dann eilten wir in die altertümliche Locanda centrale, die von einem
energischen Hernikerweibe gut und sauber geleitet wird. Diese Padrona waltet
nicht nur über dem Manne, der, wie gewöhnlich in solchen Gasthäusern, für
den Reisenden gar nicht sichtbar ist, und über acht Kindern und zahlreichem
Gesinde, sondern auch über dem Fremdling, dem sie mit einer Bestimmtheit,
die keinen Widerspruch duldet, vorschreibt, was er essen und trinken soll. Wir
bekamen hier zum erstenmal seit langer Zeit einen trinkbaren Kaffee mit gutem
Festtagskuchen — paus Ä'LsxgAna aus geschlagner Eiern, Zucker und Mehl —,
am Abend aber ein ordentliches Stück Fleisch und wilden, aber ganz zarten
Bergspargel (ssxaraAi äst irionts), der auf den benachbarten Höhen wächst.
In Rom, wo wir dasselbe Gericht später zu essen erhielten, war es viel
schlechter.

Gregorovius lobte vor vierzig Jahren Brot und Wein von Alatri. Dieses
Lob besteht noch heute zu Recht. Ich habe selten so herrlichen Weißwein ge¬
trunken wie in Alatri: ein wenig süß, aber kräftig, erinnerte er am meisten an


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[0362] Frühlingstage am Garigliano daß sich endlich der Kongreß selbst mit all den ihm innewohnenden Kräften der Aufgabe zuwenden möge, der evangelischen Kirche den Einfluß auf das sittlich-soziale Verhalten der evangelischen Christen, arm und reich, wieder zu erkämpfen, der ihr nach erschreckend allgemeinem Urteil so gut wie ganz ver¬ loren gegangen ist, und ohne den alle sozialpolitischen Kämpfe und Erfolge di /? e so dringend ersehnte Versöhnung niemals herbeiführen können? Frühlingstage am Garigliano (Fortsetzung» le Auff ahrt aus dem Thale nach Alatri, dem alten Aletrium, ist noch malerischer als die nach Veroli. Man sieht hie und da, daß der steile Felsen, auf dem die Stadt thront, künstlich geglättet ist, um die Festigkeit des Ortes zu erhöhen; an andern Stellen lugt aus dem sprossenden Grün braunes, cyklopisches Mauerwerk, in dessen Fugen sich riesige Agaven angesiedelt haben. Die Ring¬ mauer hat nach neuen Messungen einen Umfang von vier Kilometern, innerhalb deren jetzt ungefähr 5500 Einwohner Hausen. Gleich am Thore mußten wir aussteigen, weil die Straßen der Stadt zu eng sind, daß man während des Tagestreibens darin fahren könnte; dabei sahen wir zahlreiche Bergciocaren (— Sandalenträger) in ihrer bunten Tracht, die das Osterfest herbeigelockt hatte. Dann eilten wir in die altertümliche Locanda centrale, die von einem energischen Hernikerweibe gut und sauber geleitet wird. Diese Padrona waltet nicht nur über dem Manne, der, wie gewöhnlich in solchen Gasthäusern, für den Reisenden gar nicht sichtbar ist, und über acht Kindern und zahlreichem Gesinde, sondern auch über dem Fremdling, dem sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldet, vorschreibt, was er essen und trinken soll. Wir bekamen hier zum erstenmal seit langer Zeit einen trinkbaren Kaffee mit gutem Festtagskuchen — paus Ä'LsxgAna aus geschlagner Eiern, Zucker und Mehl —, am Abend aber ein ordentliches Stück Fleisch und wilden, aber ganz zarten Bergspargel (ssxaraAi äst irionts), der auf den benachbarten Höhen wächst. In Rom, wo wir dasselbe Gericht später zu essen erhielten, war es viel schlechter. Gregorovius lobte vor vierzig Jahren Brot und Wein von Alatri. Dieses Lob besteht noch heute zu Recht. Ich habe selten so herrlichen Weißwein ge¬ trunken wie in Alatri: ein wenig süß, aber kräftig, erinnerte er am meisten an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/362>, abgerufen am 29.04.2024.