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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mistel und Wurzel

ihnen schon vertraut war. Diese Hypnotisirten waren in voller krankhafter Ekstase.
Alle Kunstkritiker, Leute, die untauglich zu jeder künstlerischen Erregung und folglich
im voraus für Werke eingenommen sind, in denen alles, wie in Wagners Opern,
ausgetüftelt ist -- alle diese Leute billigten mit wichtiger Miene das Werk, das
einen so hübschen Stoff zu geistreichen Erörterungen lieferte. Diese beiden Gruppen
von Musikfexen zogen die große Menge aus den Städten hinter sich her, all die
reichen Leute mit den Kunstmäcenen an der Spitze, die sich wie die schlechten
Windhunde immer zu denen halten, die am meisten schreien. Ah, wirklich! rufen sie.
Welche Poesie! ... Es ist großartig! Besonders die Vögel! -- Ja! Ich bin ganz
hingerissen! Und diese Herren wiederholen in allen Tonarten das, was sie soeben
die Leute haben sagen hören, die sie für maßgebend halten. Und wenn es einige
darunter giebt, die über soviel Dummheit und Lüge entrüstet sind, so schweigen
sie, wie vernünftige Menschen unter einer Bande Betrunkner schweigen.

Und so macht ein falsches, Plumpes, dummes Werk, das nichts mit der Kunst
gemein hat, seinen Zug durch die Welt, kostet Millionen bei den Aufführungen
und verdirbt mehr und mehr den Geschmack der bessern Gesellschaft und ihr Gefühl
sür künstlerische Schönheit.




Mistel und Wurzel
Line Fabel

le Bäume hatten ihr Lund abgeworfen und ruhten. Nur die Wurzeln
blieben wach, denn sie mußten weiter arbeiten fürs kommende Jahr.
Oben aber im Wipfel einer hohen Ulme, am Rande des Waldes,
wo es lichter war, saß eine Mistel; die war auch noch wach und
begann zu der Wurzel drunten zu reden.

He! rief sie, ihr da unten seid doch recht elendes Volk, daß ihr
euch so in der Erde abwühlt! Seht mich an; hier oben, wann die Sonne hell
scheint, ist es schön, ein lustiges Leben!

Ja freilich, sagte die Wurzel, indem sie mit der Arbeit einhielt, da droben
muß es wohl schon sein -- und sie schaute durch die landlosen Zweige hinauf
zur Mistel.

Möchtest wohl auch lieber hier ruhig sitzen, statt in dem Dreck da zu wühlen?
fragte die Mistel.

Möchte es schon versuchen, seufzte die Wurzel; aber wie kämen ich und meine
Genossen da hinauf! Du brauchst uicht zu arbeiten, der Baum nährt dich; wir
"ber müssen schaffen von früh bis spät.

Warum denn müßt ihr das? fragte die Mistel weiter. Weil ihr dumm seid,
sage ich, und euch uicht belehren laßt. Da bin ich klüger gewesen; habe mir vom
Häher Rats erholt und weiß, wie man es anstellt, ohne viel Arbeit und Mühe in
^e Höhe zu kommen. Aber was rede ich zu euch! Ihr seid und bleibt blinde
schoren ^ und die Mistel drehte ihre grünen Blätter der Sonne zu, wandte den
Blick ab von der Wurzel und pfiff sich ein lustiges Herbstlied.


Mistel und Wurzel

ihnen schon vertraut war. Diese Hypnotisirten waren in voller krankhafter Ekstase.
Alle Kunstkritiker, Leute, die untauglich zu jeder künstlerischen Erregung und folglich
im voraus für Werke eingenommen sind, in denen alles, wie in Wagners Opern,
ausgetüftelt ist — alle diese Leute billigten mit wichtiger Miene das Werk, das
einen so hübschen Stoff zu geistreichen Erörterungen lieferte. Diese beiden Gruppen
von Musikfexen zogen die große Menge aus den Städten hinter sich her, all die
reichen Leute mit den Kunstmäcenen an der Spitze, die sich wie die schlechten
Windhunde immer zu denen halten, die am meisten schreien. Ah, wirklich! rufen sie.
Welche Poesie! ... Es ist großartig! Besonders die Vögel! — Ja! Ich bin ganz
hingerissen! Und diese Herren wiederholen in allen Tonarten das, was sie soeben
die Leute haben sagen hören, die sie für maßgebend halten. Und wenn es einige
darunter giebt, die über soviel Dummheit und Lüge entrüstet sind, so schweigen
sie, wie vernünftige Menschen unter einer Bande Betrunkner schweigen.

Und so macht ein falsches, Plumpes, dummes Werk, das nichts mit der Kunst
gemein hat, seinen Zug durch die Welt, kostet Millionen bei den Aufführungen
und verdirbt mehr und mehr den Geschmack der bessern Gesellschaft und ihr Gefühl
sür künstlerische Schönheit.




Mistel und Wurzel
Line Fabel

le Bäume hatten ihr Lund abgeworfen und ruhten. Nur die Wurzeln
blieben wach, denn sie mußten weiter arbeiten fürs kommende Jahr.
Oben aber im Wipfel einer hohen Ulme, am Rande des Waldes,
wo es lichter war, saß eine Mistel; die war auch noch wach und
begann zu der Wurzel drunten zu reden.

He! rief sie, ihr da unten seid doch recht elendes Volk, daß ihr
euch so in der Erde abwühlt! Seht mich an; hier oben, wann die Sonne hell
scheint, ist es schön, ein lustiges Leben!

Ja freilich, sagte die Wurzel, indem sie mit der Arbeit einhielt, da droben
muß es wohl schon sein — und sie schaute durch die landlosen Zweige hinauf
zur Mistel.

Möchtest wohl auch lieber hier ruhig sitzen, statt in dem Dreck da zu wühlen?
fragte die Mistel.

Möchte es schon versuchen, seufzte die Wurzel; aber wie kämen ich und meine
Genossen da hinauf! Du brauchst uicht zu arbeiten, der Baum nährt dich; wir
«ber müssen schaffen von früh bis spät.

Warum denn müßt ihr das? fragte die Mistel weiter. Weil ihr dumm seid,
sage ich, und euch uicht belehren laßt. Da bin ich klüger gewesen; habe mir vom
Häher Rats erholt und weiß, wie man es anstellt, ohne viel Arbeit und Mühe in
^e Höhe zu kommen. Aber was rede ich zu euch! Ihr seid und bleibt blinde
schoren ^ und die Mistel drehte ihre grünen Blätter der Sonne zu, wandte den
Blick ab von der Wurzel und pfiff sich ein lustiges Herbstlied.


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[0381] Mistel und Wurzel ihnen schon vertraut war. Diese Hypnotisirten waren in voller krankhafter Ekstase. Alle Kunstkritiker, Leute, die untauglich zu jeder künstlerischen Erregung und folglich im voraus für Werke eingenommen sind, in denen alles, wie in Wagners Opern, ausgetüftelt ist — alle diese Leute billigten mit wichtiger Miene das Werk, das einen so hübschen Stoff zu geistreichen Erörterungen lieferte. Diese beiden Gruppen von Musikfexen zogen die große Menge aus den Städten hinter sich her, all die reichen Leute mit den Kunstmäcenen an der Spitze, die sich wie die schlechten Windhunde immer zu denen halten, die am meisten schreien. Ah, wirklich! rufen sie. Welche Poesie! ... Es ist großartig! Besonders die Vögel! — Ja! Ich bin ganz hingerissen! Und diese Herren wiederholen in allen Tonarten das, was sie soeben die Leute haben sagen hören, die sie für maßgebend halten. Und wenn es einige darunter giebt, die über soviel Dummheit und Lüge entrüstet sind, so schweigen sie, wie vernünftige Menschen unter einer Bande Betrunkner schweigen. Und so macht ein falsches, Plumpes, dummes Werk, das nichts mit der Kunst gemein hat, seinen Zug durch die Welt, kostet Millionen bei den Aufführungen und verdirbt mehr und mehr den Geschmack der bessern Gesellschaft und ihr Gefühl sür künstlerische Schönheit. Mistel und Wurzel Line Fabel le Bäume hatten ihr Lund abgeworfen und ruhten. Nur die Wurzeln blieben wach, denn sie mußten weiter arbeiten fürs kommende Jahr. Oben aber im Wipfel einer hohen Ulme, am Rande des Waldes, wo es lichter war, saß eine Mistel; die war auch noch wach und begann zu der Wurzel drunten zu reden. He! rief sie, ihr da unten seid doch recht elendes Volk, daß ihr euch so in der Erde abwühlt! Seht mich an; hier oben, wann die Sonne hell scheint, ist es schön, ein lustiges Leben! Ja freilich, sagte die Wurzel, indem sie mit der Arbeit einhielt, da droben muß es wohl schon sein — und sie schaute durch die landlosen Zweige hinauf zur Mistel. Möchtest wohl auch lieber hier ruhig sitzen, statt in dem Dreck da zu wühlen? fragte die Mistel. Möchte es schon versuchen, seufzte die Wurzel; aber wie kämen ich und meine Genossen da hinauf! Du brauchst uicht zu arbeiten, der Baum nährt dich; wir «ber müssen schaffen von früh bis spät. Warum denn müßt ihr das? fragte die Mistel weiter. Weil ihr dumm seid, sage ich, und euch uicht belehren laßt. Da bin ich klüger gewesen; habe mir vom Häher Rats erholt und weiß, wie man es anstellt, ohne viel Arbeit und Mühe in ^e Höhe zu kommen. Aber was rede ich zu euch! Ihr seid und bleibt blinde schoren ^ und die Mistel drehte ihre grünen Blätter der Sonne zu, wandte den Blick ab von der Wurzel und pfiff sich ein lustiges Herbstlied.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/381>, abgerufen am 29.04.2024.