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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

Dichtungen, die in Rom entstanden sind, wo Michelangelo seit 1534 dauernd
seinen Wohnsitz genommen hatte. Auch hier bilden die Gedichte, die an
Cavalieri und an Vittoria Colonna gerichtet sind, einen Hauptbestandteil, sie
sind aber mit solchen Liebesgedichten untermischt, die sich weder auf das eine
noch auf das andre Verhältnis deuten lassen. Die dritte Hauptabteilung
bilden dann die Gedichte des höhern Alters, alle nach 1547 entstanden. Noch
immer ist leidenschaftliche Liebe ihr Inhalt, aber sie nehmen allmählich eine
religiöse Färbung an, und sie enden ganz in Reue, Buße und frommer Er¬
gebung.

Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Ordnung, die auf der Zusammen¬
stellung der für die Sammlung bestimmten Gedichte beruht, auch ihre Nachteile
hat. Nach dem Inhalt und nach der Zeit zusammengehöriges wird dadurch
getrennt; es ist so unmöglich geworden, z. V. die Gedichte an Cavalieri oder
an Vittoria Colonna zusammenzuordnen. Sie verteilen sich vielmehr auf die
zwei ersten Hauptabteilungen, ja sie greifen in die dritte über. Es widerspricht
der chronologischen Folge, daß die erste Abteilung mit Gedichten auf Vittoria
Colonnas Tod schließt, während die zweite zum Teil wieder Jugendgedichte,
wenn auch meist überarbeitete, bringt. Durchweg sind die Gedichte in der
Schlußredaktion mitgeteilt, die frühern Fassungen werden als Varianten be¬
handelt, während doch eine streng chronologische Anordnung das umgekehrte
Verfahren verlangen würde. Allein ohne Übelstände ging es bei keiner Art
von Einteilung ab, und ganz streng läßt sich die zeitliche Anordnung doch
nicht durchführen. Die Hauptsache ist die, das jedes Gedicht und jedes Frag¬
ment auf das sorgfältigste untersucht und mit größerer oder geringerer Wahr¬
scheinlichkeit zeitlich bestimmt ist. Nimmt man dazu noch die Erläuterungen
des Kommentars, in denen wie in den Regesten eine Menge von urkundlichen
Belegen ausgehoben und vereinigt ist, so springt der Wert der neuen Ausgabe
mit ihrem kritischen Apparat -- nicht bloß für die Gedichte, für die Biographie
überhaupt -- in die Augen.


2

Sehen wir nun zu, wie sich nach den Forschungen Freys das Gesamt¬
bild von Michelangelos poetischem Schaffen gestaltet. Das werden wir freilich
nicht erwarten dürfen, daß die Probleme, die dieses darbietet, nun alle klipp
und klar gelöst sind. Die Gedichte sind jetzt mit mehr oder weniger Sicher¬
heit chronologisch bestimmt, aber die Schwierigkeiten ihrer Erklärung liegen
überwiegend auf einer andern Seite. Sie liegen in der Eigentümlichkeit der
Liebespoesie Michelangelos, für die vielfach eine unmittelbar sich aufdrängende
Erklärung fehlt, die arm ist an Merkmalen persönlicher Beziehungen, und deren
Proben wir zudem erst aus des Dichters spätern Jahren besitzen. Von Jugend¬
poesien ist uns fast nichts erhalten. Überhaupt ist ein großer Teil der Gedichte,
vielleicht der größte, nicht mehr vorhanden. Viele sind aus Sorglosigkeit


Die Gedichte Michelangelos

Dichtungen, die in Rom entstanden sind, wo Michelangelo seit 1534 dauernd
seinen Wohnsitz genommen hatte. Auch hier bilden die Gedichte, die an
Cavalieri und an Vittoria Colonna gerichtet sind, einen Hauptbestandteil, sie
sind aber mit solchen Liebesgedichten untermischt, die sich weder auf das eine
noch auf das andre Verhältnis deuten lassen. Die dritte Hauptabteilung
bilden dann die Gedichte des höhern Alters, alle nach 1547 entstanden. Noch
immer ist leidenschaftliche Liebe ihr Inhalt, aber sie nehmen allmählich eine
religiöse Färbung an, und sie enden ganz in Reue, Buße und frommer Er¬
gebung.

Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Ordnung, die auf der Zusammen¬
stellung der für die Sammlung bestimmten Gedichte beruht, auch ihre Nachteile
hat. Nach dem Inhalt und nach der Zeit zusammengehöriges wird dadurch
getrennt; es ist so unmöglich geworden, z. V. die Gedichte an Cavalieri oder
an Vittoria Colonna zusammenzuordnen. Sie verteilen sich vielmehr auf die
zwei ersten Hauptabteilungen, ja sie greifen in die dritte über. Es widerspricht
der chronologischen Folge, daß die erste Abteilung mit Gedichten auf Vittoria
Colonnas Tod schließt, während die zweite zum Teil wieder Jugendgedichte,
wenn auch meist überarbeitete, bringt. Durchweg sind die Gedichte in der
Schlußredaktion mitgeteilt, die frühern Fassungen werden als Varianten be¬
handelt, während doch eine streng chronologische Anordnung das umgekehrte
Verfahren verlangen würde. Allein ohne Übelstände ging es bei keiner Art
von Einteilung ab, und ganz streng läßt sich die zeitliche Anordnung doch
nicht durchführen. Die Hauptsache ist die, das jedes Gedicht und jedes Frag¬
ment auf das sorgfältigste untersucht und mit größerer oder geringerer Wahr¬
scheinlichkeit zeitlich bestimmt ist. Nimmt man dazu noch die Erläuterungen
des Kommentars, in denen wie in den Regesten eine Menge von urkundlichen
Belegen ausgehoben und vereinigt ist, so springt der Wert der neuen Ausgabe
mit ihrem kritischen Apparat — nicht bloß für die Gedichte, für die Biographie
überhaupt — in die Augen.


2

Sehen wir nun zu, wie sich nach den Forschungen Freys das Gesamt¬
bild von Michelangelos poetischem Schaffen gestaltet. Das werden wir freilich
nicht erwarten dürfen, daß die Probleme, die dieses darbietet, nun alle klipp
und klar gelöst sind. Die Gedichte sind jetzt mit mehr oder weniger Sicher¬
heit chronologisch bestimmt, aber die Schwierigkeiten ihrer Erklärung liegen
überwiegend auf einer andern Seite. Sie liegen in der Eigentümlichkeit der
Liebespoesie Michelangelos, für die vielfach eine unmittelbar sich aufdrängende
Erklärung fehlt, die arm ist an Merkmalen persönlicher Beziehungen, und deren
Proben wir zudem erst aus des Dichters spätern Jahren besitzen. Von Jugend¬
poesien ist uns fast nichts erhalten. Überhaupt ist ein großer Teil der Gedichte,
vielleicht der größte, nicht mehr vorhanden. Viele sind aus Sorglosigkeit


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[0462] Die Gedichte Michelangelos Dichtungen, die in Rom entstanden sind, wo Michelangelo seit 1534 dauernd seinen Wohnsitz genommen hatte. Auch hier bilden die Gedichte, die an Cavalieri und an Vittoria Colonna gerichtet sind, einen Hauptbestandteil, sie sind aber mit solchen Liebesgedichten untermischt, die sich weder auf das eine noch auf das andre Verhältnis deuten lassen. Die dritte Hauptabteilung bilden dann die Gedichte des höhern Alters, alle nach 1547 entstanden. Noch immer ist leidenschaftliche Liebe ihr Inhalt, aber sie nehmen allmählich eine religiöse Färbung an, und sie enden ganz in Reue, Buße und frommer Er¬ gebung. Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Ordnung, die auf der Zusammen¬ stellung der für die Sammlung bestimmten Gedichte beruht, auch ihre Nachteile hat. Nach dem Inhalt und nach der Zeit zusammengehöriges wird dadurch getrennt; es ist so unmöglich geworden, z. V. die Gedichte an Cavalieri oder an Vittoria Colonna zusammenzuordnen. Sie verteilen sich vielmehr auf die zwei ersten Hauptabteilungen, ja sie greifen in die dritte über. Es widerspricht der chronologischen Folge, daß die erste Abteilung mit Gedichten auf Vittoria Colonnas Tod schließt, während die zweite zum Teil wieder Jugendgedichte, wenn auch meist überarbeitete, bringt. Durchweg sind die Gedichte in der Schlußredaktion mitgeteilt, die frühern Fassungen werden als Varianten be¬ handelt, während doch eine streng chronologische Anordnung das umgekehrte Verfahren verlangen würde. Allein ohne Übelstände ging es bei keiner Art von Einteilung ab, und ganz streng läßt sich die zeitliche Anordnung doch nicht durchführen. Die Hauptsache ist die, das jedes Gedicht und jedes Frag¬ ment auf das sorgfältigste untersucht und mit größerer oder geringerer Wahr¬ scheinlichkeit zeitlich bestimmt ist. Nimmt man dazu noch die Erläuterungen des Kommentars, in denen wie in den Regesten eine Menge von urkundlichen Belegen ausgehoben und vereinigt ist, so springt der Wert der neuen Ausgabe mit ihrem kritischen Apparat — nicht bloß für die Gedichte, für die Biographie überhaupt — in die Augen. 2 Sehen wir nun zu, wie sich nach den Forschungen Freys das Gesamt¬ bild von Michelangelos poetischem Schaffen gestaltet. Das werden wir freilich nicht erwarten dürfen, daß die Probleme, die dieses darbietet, nun alle klipp und klar gelöst sind. Die Gedichte sind jetzt mit mehr oder weniger Sicher¬ heit chronologisch bestimmt, aber die Schwierigkeiten ihrer Erklärung liegen überwiegend auf einer andern Seite. Sie liegen in der Eigentümlichkeit der Liebespoesie Michelangelos, für die vielfach eine unmittelbar sich aufdrängende Erklärung fehlt, die arm ist an Merkmalen persönlicher Beziehungen, und deren Proben wir zudem erst aus des Dichters spätern Jahren besitzen. Von Jugend¬ poesien ist uns fast nichts erhalten. Überhaupt ist ein großer Teil der Gedichte, vielleicht der größte, nicht mehr vorhanden. Viele sind aus Sorglosigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/462>, abgerufen am 29.04.2024.